Birgit Rabisch
Dies ist keine Pfeife
Gerhard hat kurz überlegt, ob er sich das Gespräch durchstellen lassen will. Wozu hat er seine tüchtige Frau Krüger, die ihn vor Zeitgenossen abschirmt, die nur seine Zeit stehlen. Aber er war neugierig, was Elmar von ihm wollte. Mit dem hat er ein paar Jahre lang die Schulbank gedrückt, ihn aber seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Wann war das letzte Klassentreffen? Bestimmt schon zehn Jahr her oder länger. Na, dann leih ich ihm mal mein Ohr für ein paar Minütchen, hat er großmütig gedacht, und jetzt kaut der Schwachkopf es ihm ab mit einem endlosen Strom von weißt du noch dies und weißt du noch das!
Und dann das Furzkissen auf Dr. Polts Stuhl! Zum Brüllen komisch oder, sag ehrlich, Gerdi! Oder?
Gerhard fand’s schon damals nicht besonders originell, ringt sich aber ein kurzes Lachen ab. Er ist sich sicher, dass ein sensibler Gesprächspartner das Gequälte dieses Lachens wahrgenommen hätte, aber Elmar plaudert munter weiter:
Wie der geglotzt hat, der Polt, der hochmögende Herr Doktor, der alte Sack! Apropos alter Sack, da fällt mir das Ding mit dem Lachsack ein …
Gerhard hält das Telefon auf Abstand, denn jetzt lacht Elmar selbst wie eins von diesen bunten Säckchen, die auf Knopfdruck lautes Gelächter abspulten. Gibt’s sowas heute überhaupt noch? Tempi passati. Manchmal hat das auch was Gutes.
Er strafft sich. Er muss Elmars Redestrom ein Ende setzen. Er ist schließlich nicht mehr der leicht einzuschüchternde schmächtige Gerdi, dem ein Schulhofrowdy wie Elmar Angst einjagen konnte. Er ist Dr. Gerhard Baumeister, ein allgemein anerkannter Hamburger Medienanwalt, von den Gegnern seiner Mandanten zu Recht gefürchtet.
Elmar, leider habe ich nicht die Zeit für Schulanekdoten. Vielleicht könntest du …
Verstehe, verstehe! Na klar, du bist ja jetzt auch ein Herr Doktor. Da ist jede Minute kostbar. Da muss ich ja dankbar sein …
Du musst nicht dankbar sein. Ich wäre dir nur verbunden, wenn du zum Kern deines Anliegens kommen könntest. Du rufst mich doch nicht an, um über alte Schulzeiten zu plaudern.
Kurz ist es still im Lautsprecher des Telefons, doch gleich darauf überträgt er wieder Elmars dröhnende Stimme:
Bingo! Du warst immer schon ein Schnellmerker, Gerdi. Aber okay, Spaß beiseite. Ich hab eine klitzekleine Frage an dich als Medienanwalt. Du bist ja eine Kapazität, wenn ich Google glauben darf. Aber darf man Google überhaupt glauben?
Ist das deine Frage?
Was? Nein, natürlich nicht. Das war eine rhetorische Frage. Du siehst, ich hab nicht alles vergessen, was wir auf unserem humanistischen Gymnasium gelernt haben, auch wenn ich das Abi vergeigt hab. Ich weiß, was eine rhetorische Frage ist und was …
Elmar! Worum geht’s?
Schon gut, reg dich nicht auf, ich leg ja schon los. Also: Du erinnerst dich sicher an diese Corona-Demos. Da liefen doch auch so Leute mit, die hatten Schilder mit Galgen drauf und darüber stand: Reserviert für Merkel oder für Lauterbach oder für sonst wen von den Großkopferten.
Ja?
Die sind doch angeklagt worden wegen Aufruf zum Mord. Sind die auch verurteilt worden?
Nein.
Echt nicht?
Nein. Und das war auch nicht anders zu erwarten.
Aber ist das denn nicht ein Aufruf zu einer Straftat? Das ist doch verboten!
Elmar, ich kann dir hier kein Proseminar in Sachen Meinungsfreiheit geben. Auf die Schnelle so viel: Es darf nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass es sich nicht nur um eine symbolische Äußerung oder nicht nur um eine völlig überzogene Meinungsäußerung handelt. Nur wenn ein sogenannter objektiver Beobachter das als ernsthafte Aufforderung versteht, hinzugehen und die Person tatsächlich umzubringen, nur dann wäre es strafbar. Wer ganz sicher gehen will, schreibt einfach darunter Dies ist kein Mordaufruf. Dann ist er auf der sicheren Seite.
Elmar prustet laut los. Er kann sich gar nicht wieder einkriegen:
Ich lach mich schlapp! Dies ist kein Mordaufruf. Das ist ja wie bei diesem Pfeifenbild von Magritte, auf dem Dies ist keine Pfeife steht. Ach, ihr Juristen! Ich muss schon sagen, Humor habt ihr, aber ehrlich.
Plötzlich fühlt sich Dr. Gerhard Baumeister wieder wie der Schuljunge Gerdi, den der bauernschlaue Elmar mal wieder in einen Hinterhalt gelockt hat. Er verspürt das dringende Bedürfnis, das Gespräch so schnell wie möglich zu beenden.
War’s das jetzt, was du wissen wolltest? Meine Tochter hat nämlich heute Geburtstag und da will ich …
Na, da richte deinem Töchterchen doch meinen herzlichsten Glückwunsch aus! Wie alt wird sie denn?
Zwanzig. Elmar, ich …
Alles klar. Ich will dich nicht von deinen Vaterpflichten abhalten. Nichts läge mir ferner. Der Wert der Familie und so, bin ich sehr dafür, auch wenn’s bei mir nicht geklappt hat. Danke für deine kostenlose Auskunft. Ich hab meine Wette gewonnen. Yeah!
Wette? Es ging dir um eine Wette?
Ja, tut mir leid, wenn ich dich mit etwas so Profanem belästigt habe, aber mein bester Kumpel hat gemeint, dass man das mit dem Galgen nicht tun darf. Dass man sich damit strafbar macht. Und ich meinte nö, Meinungsfreiheit und so. Und da haben wir halt gewettet und uns auf dich als kompetenten Schiedsrichter geeinigt. Ach übrigens: Er hört mit.
In diesem Moment hätte Gerhard das Telefon am liebsten an die Wand geschmissen. Aber er hat gelernt, seine Impulse zu kontrollieren und drückt nur mit unnötiger Kraft auf das rote Hörersymbol.
Arschloch! Pestbeule! Fuck you, Elmar!
Er atmet fünfmal tief durch und spürt, wie sich sein Herzschlag beruhigt.
Gut dass ich Arschloch und Pestbeule nur gedacht habe. Wenn ich es ihm an den Kopf geworfen hätte, könnte er mich locker wegen Beleidigung anzeigen. War das sein eigentliches Ziel? Vor seinem Kumpel als Zeugen? Hat er das Gespräch vielleicht sogar aufgezeichnet? Aber Gott sei Dank, die Gedanken sind ja noch frei! Und ins Gehirn eingepflanzte Chips haben wir nicht. Noch nicht …
Sein Gedankenstrom wird von Frau Krüger unterbrochen, die ihn daran erinnert, dass er um 16 Uhr zu seiner Tochter aufbrechen will. Er steht hastig auf, tauscht seine maßgeschneiderte Anzugjacke gegen ein legeres Teil, lässt sich von Frau Krüger die Urkunde über 200 gepflanzte Bäume zur Aufforstung des Regenwaldes in die Hand drücken und läuft die wenigen Schritte zum U-Bahnhof Jungfernstieg.
Mit einem Blumenstrauß darf ich Lisa ja nicht kommen. Schnittblumen sind für sie Leichen. Und womöglich stammen die auch noch aus Afrika, sind mit Pestiziden, Kinderarbeit und Flugtransport verseucht! Hoffentlich hat Frau Krüger mit der Urkunde das passende Geschenk gefunden. Nicht dass es die falschen Bäume im falschen Wald sind. Ach, wird schon gut sein. Sie kennt ja Lisas Macken.
Nach nur sechs Minuten Fahrt steigt Gerhard an der Christuskirche aus und hat auch schon bald den prächtig sanierten Altbau mitten im Schanzenviertel erreicht. Bei einem Blick auf die Parkplatzsituation beglückwünscht er sich dazu, seinen BMW in der Tiefgarage seiner Kanzlei stehen gelassen zu haben. Außerdem kann er so bei Lisa punkten, denn ihr reicht es natürlich nicht, dass er schon seit einem Jahr ein E-Auto fährt. Für sie gelten nur die Öffis, wie sie liebevoll die öffentlichen Verkehrsmittel nennt, als wahrhaft klimafreundlich.
Gerhard seufzt, als er in den dritten Stock hochsteigt, in dem sich die WG seiner Tochter befindet. Wann ist nur aus seinem lieben Mädchen diese radikale Aktivistin geworden? Als sie bei Frydays für Future mitlief, fand er das ja noch toll und hat auch nicht wie ihre Mutter ständig übers Schuleschwänzen gejammert. Aber seit sie sich zur Letzten Generation zählt, hat er manchmal richtig Angst um sie. Nicht wegen der Reaktion der Polizei, auch nicht wegen möglicher Prozesse. Für eine schlagkräftige Verteidigung vor Gericht würde er schon sorgen. Aber ihm gehen die Bilder nicht mehr aus dem Kopf, auf denen erboste Autofahrer an festgeklebten jungen Menschen zerren, ja, auf sie einschlagen oder eintreten. Er muss noch mal ein ernstes Wörtchen mit ihr reden. Aber nicht heute. Nicht an ihrem Geburtstag.
Lisa selbst ist es, die ihm die Wohnungstür öffnet. Sie lässt sich auch bereitwillig umarmen, beantwortet seine etwas unbeholfene Gratulation mit einem gnädigen Lächeln und führt ihn in ihr Zimmer. Südostlage, stellt Gerhard mal wieder mit Befriedigung fest, hell, groß, hohe Wände, mit Stuck an der Decke und Pitchpine als Fußboden.
Mein Geld ist gut angelegt. Lisa muss nicht in einer schäbigen Studentenbude mit Schimmel an den Wänden hausen wie ich damals. Meine Tochter sollte es besser haben und sie hat es besser. Noch. Gehört sie wirklich zur letzten Generation auf Erden, wie sie glaubt? Wird der Klimawandel unseren Planeten unbewohnbar machen? Das darf nicht sein, da bin ich voll und ganz auf ihrer Seite. Aber ich versuche, das Positive zu sehen, den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Ansätze, den C02-Ausstoß zu drosseln, die vielen engagierten Menschen. Wie meine Lisa.
Gerhard blickt stolz auf seine einzige Tochter, aber auch ein wenig schuldbewusst.
Verdammt, ich weiß, dass ich in ihrer Kindheit zu wenig für sie da war. Aber ich musste hart um den Aufbau der Kanzlei kämpfen und ich wusste sie ja bei Annika in guten Händen. In Fragen der Kindererziehung gab es nie Konflikte mit meiner Frau. Auch sonst gab es eigentlich kaum Konflikte, aber irgendwie war da so ein schleichender Prozess der Entfremdung. Ganz verstanden hab ich nie, warum Annika plötzlich unbedingt die Scheidung wollte. Als Lisa ins Teenager-Alter kam, wollte sie nicht mehr Managerin von Kind und Haus und Garten in Pinneberg sein. Plötzlich fing sie an, sich für Politik zu interessieren, trat in die SPD ein und jetzt sitzt sie sogar im Stadtrat. Aber das hätte sie ja auch alles ohne Scheidung machen können! Da ist was abgestorben in ihr, das Gefühl für mich, hat sie gesagt. Dagegen half selbst mein ausgefeiltes Plädoyer nicht. Na ja. Gegen Gefühle kann man nicht argumentieren. Gegen nicht mehr vorhandene Gefühle schon gar nicht, hat Lisa damals zu mir gesagt. Manchmal ist meine Tochter schlauer als ich.
Papa? Du bist so abwesend.
Was? Oh nein, ich bin anwesend, hundertprozentig anwesend. Heute wird mein Schuldenkonto abwesender Vater nicht weiter aufgefüllt! Heute zeigt das Patriarchat seine Schokoladenseite. Und bevor ich’s vergesse: hier, dein Geschenk.
Lisa schüttelt lachend den Kopf. Zum Glück hat sie ihren Humor nicht verloren. Und die gepflanzten Bäume gefallen ihr. Sie umarmt ihren Vater sogar noch einmal und serviert ihm ein übriggebliebenes Stück von der Geburtstagstorte, die ihre Mutter vorbeigebracht hat.
Hmmh! Köstlich, die Torte. Backen kann deine Mutter immer noch!
Fand meine WG auch.
Warum ist Annika denn schon wieder weg? Will sie sich meinen Anblick ersparen?
Es dreht sich nicht immer alles um dich, Papa.
War nur ein Scherz.
Diesmal lacht Lisa nicht, sondern belehrt ihn:
Mama hat heute noch eine wichtige Stadtratssitzung.
Wichtige Sitzung! Aha! Worum geht’s? Um die Straßenbeleuchtung in Pinneberg? Oder die Müllabfuhr?
Papa!
Gerhard weiß, dass er sich gleich eine glühende Abhandlung seiner Tochter darüber anhören muss, wie wichtig doch das kommunale Engagement für den Erhalt der Demokratie ist. Doch davor bewahrt ihn das Klingen ihres Handys.
Mama? Was? Das ist ja ein fürchterliches Geschrei! Vor unserem Haus? Da dürfen die nicht demonstrieren. Film das, Mama! Film das! Das ist Beweismaterial.
Gerhard und seine Tochter starren gemeinsam auf das Display von Lisas Handy und sehen einen wutentbrannten Mob, hundert Menschen vielleicht, fast alles Männer, die mit der Faust drohen und Stadtrat, Unrat! und Volksverräter! schreien. Einer hält ein Pappschild in die Höhe, auf dem ein Galgen zu sehen ist. Und die Aufschrift: Reserviert für Annika Baumeister. Und klein darunter steht noch etwas.
Zoom das Schild ran! Zoom das ran, Lisa!
Aber Gerhard weiß schon, was er gleich lesen wird.
veröffentlicht in:
Das Leben wagen - die Zeit befragen
Anthologie 2024 der Gruppe 48
Hg. Heiger Ostertag und Uta Oberkampf
Mackingerverlag
und in:
Freiheit des Wortes
Anthologie des Verbandes deutscher Schriftsteller*innen Hamburg
Hg. Reimer Boy Eilers u. a.
Kulturmaschinenverlag