Farewell
Seit 42 Jahren sind wir ein Paar. Und 38 Jahre lang waren wir ein Seglerpaar. Immer hast du auf unseren Törns das Logbuch geschrieben. Natürlich hast du es geschrieben, denn du warst der Schipper und ich nur die Landratte, die am Anfang viel lernen musste, bis sie eine halbwegs patente Vorschoterin abgab.
Du bist ein Mann des Wassers. Als Fischersohn in Finkenwerder geboren, bist du schon als Knirps mit einer Jolle auf der Elbe rumgeschippert und als junger Mann bist du ein paar Jahre als Maschinist auf große Fahrt gegangen. Dein späteres Berufsleben hat sich an Land abgespielt, aber im Sommer zog es dich unweigerlich aufs Wasser. Du hast einen alten Jollenkreuzer flottgemacht und mit ihm sind wir 38 Jahre lang ins Wattenmeer gesegelt. In 38 Logbüchern hast du Sturmfahrten und Flauten, unsere Fehler und unsere Glanzleistungen festgehalten, aber auch die spröde Schönheit des Landes beschrieben, das geformt von Ebbe und Flut, dem Meer gehört.
Jetzt ist der Jollenkreuzer verkauft und es ist an mir das Logbuch über unseren letzten Törn zu schreiben, denn du kannst es nicht mehr. Dieser Törn führt uns nicht ins Land, das dem Meer gehört, sondern ins Land, das dem Vergessen gehört. Auch dort gibt es Stürme und Flauten und jetzt bin ich die Schipperin, die sie meistern muss, wohl wissend, dass unser Boot am Ende unweigerlich festkommen wird und keine Flut es wieder heben kann. Aber noch sind wir unterwegs und wir sind zusammen und immer wieder scheint die Sonne zwischen den Wolken hervor. Ich muss navigieren, aber du gibst noch einen passablen Vorschoter ab und weißt die Segel zu setzen.
„Starkwind von vorn“, klage ich.
„Na und? Dann reffen wir eben und kreuzen“, antwortest du.
Recht hast du. Unser Törn ins Vergessen ist keine gemütliche Sonntagnachmittagsfahrt mit geblähten Segeln bei Wind von achtern. Wir müssen gegen den Wind kreuzen, das Boot kippt in die Schräglage und Gischt spritzt uns nass. Doch am Abend im Hafen, wenn die Klamotten getrocknet sind und die Petroleumlampe unsere Gesichter weichzeichnet, stoßen wir mit heißem Fliederbeergrog darauf an, dass wir wieder einen Tag standgehalten haben.
„Und wenn der Starkwind zum Sturm wird?“
„Dann bleiben wir eben im Hafen“, sagst du. „Hauptsache wir sind zusammen und das Boot geht nicht unter.“
Ja, denke ich und hoffe, dass ich noch lange die immer größer werdenden Lecks im Rumpf abdichten kann, die du nicht mehr siehst.
Und wenn nicht mehr?
Wir haben, lange bevor du deine Alzheimer-Diagnose erhalten hast, ausführlich darüber gesprochen, wie wir sterben wollen. Und wie nicht. Es war nicht leicht, dich zu Gesprächen über dieses Thema zu bewegen, weil es dir viel mehr liegt, das Leben auf dich zukommen zu lassen und Entscheidungen erst dann zu treffen, wenn sie anliegen. Das Konzept ist wunderbar und damit kommt man viel entspannter durchs Leben, als wenn man immer alles vorausplanen will wie ich. Doch auch dir war klar, dass es nicht mehr funktioniert, wenn man anliegende Entscheidungen eben nicht mehr treffen kann. Weil man z. B. schwer dement ist.
Ich habe damals verschiedene Formulare für eine Patientenverfügung studiert, sie mit dir diskutiert und wir haben dann für uns jeweils gleichlautende Verfügungen aufgesetzt. Die sind detailliert und umfassen vier Seiten (und trotzdem bestimmt nicht alle denkbaren Situationen) und nach deiner Diagnose haben wir sie noch einmal besprochen und neu unterschrieben.
Ich habe die Verfügungen heute noch einmal durchgelesen und sie geben weiterhin meinen Willen wieder. Ob sie deinem Willen noch entsprechen, kann ich mit dir nicht mehr besprechen, weil du die weitreichenden Konsequenzen nicht mehr überblicken kannst. Aber wir haben uns damals versprochen, in diesem Fall stellvertretend für den anderen den in gesunden Tagen durchdiskutierten und schriftlich festgehaltenen Willen gegebenenfalls auch gegen Widerstände durchzusetzen. Ich hoffe, der Tag an dem ich für dich Entscheidungen z. B. über lebensverlängernde Maßnahmen treffen muss, ist noch in weiter Ferne. Aber es gibt mir Sicherheit zu wissen, was du willst und was auf keinen Fall:
Wenn ich infolge eines weit fortgeschrittenen Hirnabbauprozesses z. B. durch eine Demenzerkrankung auch mit ausdauernder Hilfestellung nicht mehr in der Lage bin, Nahrung und Flüssigkeit auf natürliche Weise zu mir zu nehmen, wünsche ich
- dass keine künstliche Ernährung und keine künstliche Flüssigkeitszufuhr erfolgen.
- dass alle lebenserhaltenden Maßnahmen unterlassen werden.
- dass keine künstliche Beatmung durchgeführt wird.
- die Unterlassung von Versuchen der Wiederbelebung.
Wir beide haben erlebt, wie meine Mutter nach einem Schlaganfall bettlägerig wurde, nach einer Besserungsphase einfache Gespräche führen konnte, dann aber verstummte und keine verbale Kommunikation mehr möglich war. Sie wurde künstlich durch eine Magensonde ernährt. Ich besuchte sie wöchentlich, aber sie reagierte immer weniger, auch nicht auf Streicheln, schaute nur in die Luft oder schlief. Fünf Jahre lang wurde sie von meinem Bruder, der als ihr Bevollmächtigter auch alle Entscheidungen für sie traf, in ihrem Zuhause hingebungsvoll gepflegt, natürlich unterstützt von Pflegediensten. Die äußeren Bedingungen hätten also besser nicht sein können. Dennoch war für dich und für mich klar: Wir hätten in einem solchen Fall unsere Körper nicht durch eine Sondenernährung weiter am Leben erhalten wollen.
Die Frage von Lebensverlängerung um jeden Preis oder Annehmen des Sterbeprozesses muss jeder für sich entscheiden. Für mich kann ich sagen: Wenn ich jetzt sterben müsste, könnte ich damit meinen Frieden machen. Ich habe bisher meistens gern gelebt und alles, was jetzt nach meinem siebzigsten Lebensjahr noch kommt, empfinde ich als Bonusprogramm, für das ich dankbar bin, an das ich mich aber nicht klammere. Keinesfalls möchte ich als Körper ohne Bewusstsein enden. Wenn ich nicht mehr da bin, soll man auch meinen Körper gehen lassen.
Ich bin mir bewusst, dass dieses Ich, auf das ich mich hier beziehe, ein ungeklärtes Phänomen ist, philosophisch gesehen vielleicht nur ein Konstrukt. Und was ist das Ich eines Demenzkranken im letzten Stadium, nachdem es sich über Jahre verändert hat, sich immer weiter wegbewegt hat vom Ich vor der Demenz?
Noch erkenne ich dein mir bekanntes Ich in dir, wie du jetzt bist, auch wenn du logische Überlegungen nicht mehr nachvollziehen kannst, viel vergisst, dich in deiner Kindheit wähnst, mit Phantomen sprichst, beim Essen zehnmal aufstehst, um deine Gabel abzuwaschen (dein neuester Tick). Wenn du mich anschaust, bist immer noch du es, der mich anschaut. Das kann ich nicht begründen, das spüre ich. Und noch lebst du gern und ich tue alles, um dein Leben, um unser Leben zu erhalten: gesunde Ernährung, Bewegung, Fröhlichkeit, Zärtlichkeit, Blutdruckkontrolle, Einnahme der verschriebenen Medikamente. Alles für unser Bonusprogramm mit und ohne Demenz.
Wir dümpeln als alte Fregatte (ich) und von einem Piraten (dem Freibeuter Alzheimer) gekaperter Finkenwerder Fischkutter auf unberechenbaren Kreuzwellen dahin. Und manchmal ist unser Leben doch noch wie ein Sonntagnachmittagstörn bei Sonnenschein und milden Winden, zum Beispiel am letzten Wochenende. Wir sind mit unserem Sohn Sören und seiner Freundin Doris bei strahlendem Sonnenschein um die Alster gegangen, wir haben Eis gegessen, den Segelbooten zugeschaut und einem Gänsepaar, das sein einziges Küken behütete. Augenblicke zum Verweilen! Du hast nicht viel gesagt, aber wirktest auf mich zufrieden. Auf dem Rückweg mit der U-Bahn hast du mir dann sogar spontan ein Kompliment gemacht:
„Deine Haare sind immer noch schön. Dunkelschön.“
„Na ja, aber an den Schläfen werden sie langsam grau.“
„Ich seh kein Grau.“
Ich habe nicht auf den grauen Tatsachen insistiert. Ich habe kein Problem damit, wenn sich meine 70 Jahre auch im Haar abzeichnen. Vielleicht wirke ich dann so altersweise, wie ich es wohl nie sein werde.
Du bist auch relativ spät grau geworden und hast noch immer volles Haar, um das dich sicher einige halb so alte Männer beneiden. Deine Angst um deine Haare ist allerdings umgekehrt proportional zu deiner Sorge um dein Gedächtnis. Wo soll da das Problem sein? Aber deine Haare, die müssen schon im Frühjahr vor jedem Sonnenstrahl geschützt werden. Also trägst du immer eine Schirmmütze, wenn wir nach draußen gehen. Da du inzwischen sehr krumm bist, geht dein nach oben abgeschirmter Blick nur noch auf den Boden vor dir. Vielleicht liegt es auch daran, dass du jetzt fast immer hinter mir läufst. So oft ich auch langsamer gehe, um dich an meine Seite zu holen, du lässt dich gleich wieder zurückfallen. Wahrscheinlich gibt es dir mehr Sicherheit, mir als Wegweiser zu folgen. Ich erinnere mich, dass meine Schwägerin das gleiche Verhalten von ihrem dementen Mann berichtet hat, wobei sie mehrmals stöhnte, es mache sie wahnsinnig. Mich macht es traurig, aber ich versuche es aus deiner Sicht zu sehen. Wenn du ein Flaggschiff brauchst, dem du folgen kannst, dann übernimmt die Landratte eben jetzt das Kommando. Ahoi, auf große Fahrt – zu Aldi. Es drohen keine Klippen, an denen wir zerschellen könnten, aber Hundehaufen müssen umschifft werden und rasende E-Biker rechtzeitig gesichtet, um ihnen nach Backbord oder Steuerbord auszuweichen. Bei Aldi entscheide ich über die Ladung, du schiebst den Einkaufwagen zur Kasse, ich bezahle und dann steuere ich unsere schwerbeladende Zwei-Schiff-Flotte in den Heimathafen – in den vierten Stock. Ohne Kran. Wir sind eine museumsreife Flotte, die noch mit Man Power funktioniert. Und mit Women Power.
Und dann wieder schäme ich mich, weil ich so unentspannt mit einer deiner neuen Macken umgehe: Du stopfst dir das Hemd nicht nur in die Hose, sondern in die Unterhose und ziehst die so hoch, dass sie gut sichtbar wird. Solange wir in unserer Wohnung sind, kann ich dich damit locker aufziehen, kann dich fragen, ob du gerade einen neuen Modetrend kreieren willst.
„Nein, wieso? Das hab ich immer schon so gemacht.“
Bisher konnte ich dich noch überreden, das Hemd aus der Hose zu ziehen, wenn wir nach draußen gehen. Doch gestern hat dich mein Ansinnen so wütend gemacht, wie ich dich bisher selten erlebt habe:
„Lass mich in Ruhe! Ich trag mein Hemd, wie ich will. Fummel nicht an mir rum. Alle tragen ihre Unterhose so! Ich weiß gar nicht, was du willst.“
Du hast ja Recht: Mein Verhalten ist übergriffig. Du kannst dich anziehen, wie du willst. Also gehen wir jetzt so raus. Aber ich muss zugeben, dass ich mich unwohl fühle, dass ich mich frage, was in den Köpfen der Leute vorgehen mag, die dich so sehen. Sehen sie dich als lächerliche Gestalt? Fragen sie sich, warum ich nicht dafür sorge, dass du ordentlich gekleidet in die Öffentlichkeit gehst? Wie peinlich! Doch dann erinnere mich, wie ich es damals als Jugendliche gehasst habe, dieses ewige „Was sollen denn die Leute sagen“ meiner Eltern. Ob Minirock, ob Demonstrieren, ob Verweigerung des Kirchgangs – jede Diskussion darüber wurde mit dem Totschlag-Nichtargument beendet: „Was sollen denn die Leute sagen.“ Wieviel Kraft hat es mich gekostet, mich gegen diesen (oft nur vermeintlichen) Blick von außen zur Wehr zu setzen, mich unabhängig zu machen vom mutmaßlichen Gerede der Leute. Und jetzt schäme ich mich dafür, dass man deine Unterhose sehen kann? Etwas mehr guten alten aufmüpfigen 68er-Geist, bitte! Oder wie du früher auf Plattdeutsch gesagt hast: Mok, wat du wullst, de Lüüd schnackt doch.
Wie komme ich jetzt von dem lächerlichen Unterhosen-Problem noch einmal zurück zur existenziellen Frage: Wann darf, kann, soll, muss ein menschliches Leben enden?
Bei meinem Nachdenken darüber ist mir aufgefallen, dass ich bei dieser abstrakten Frage auf unterschiedliche Antworten komme, wenn ich sie mir konkret für dich oder für mich stelle.
Klar ist für uns beide, dass wir einen Zustand, in dem wir bettlägerig, ohne Bewusstsein oder nur noch rudimentär kommunikationsfähig sind, nicht künstlich verlängert wissen wollen. Darüber haben wir uns intensiv ausgetauscht und dafür haben wir unsere Patientenverfügungen aufgesetzt. Aber was ist mit dem viel größeren Bereich zuvor? Wenn ich mir den weiteren Verlauf deiner Demenz vorstelle, denke ich, wichtig ist nur, dass du noch gern lebst, dass du noch Freude empfinden kannst und dass ich dir das so lange wie nur irgend möglich erhalten möchte.
Für mich denke und empfinde ich anders. Wenn ich nicht mehr ich sein kann, will ich nicht mehr sein. Und ich habe große Angst, in die sogenannte Altersfalle zu tappen: immer munter weiter zu leben im Gefühl, wenn ich es einmal nicht mehr will, kann ich Schluss machen, aber dann nimmt mir ein plötzliches Ereignis (z. B ein schwerer Schlaganfall) die Entscheidung aus der (gelähmten) Hand. Dann habe ich den Zeitpunkt verpasst. Eine Demenz kommt zum Glück nicht plötzlich. Doch wie lange nach der Diagnose wäre ich noch in der Lage, meinem Leben ein Ende zu setzen? Ich müsste es schnell tun, um nicht in die Falle (s. o.)zu tappen. Andererseits macht mir das Leben zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich noch Spaß. Ich müsste also auf einen Rest lustvollen Lebens verzichten, um einem Lebensende, in dem ich langsam die Regie verliere, vorzubeugen.
Ich weiß, was du zu meinen Überlegungen sagen würdest, wenn du noch der Regisseur deines Lebens wärest. Sagen würdest du:
Dein ewiger Kontrollwahn! Wir haben doch sowieso nur sehr eingeschränkt die Regie über unser Leben.
Aber nicht so eingeschränkt wie bei einer Demenz!
Nimm das Leben einfach so, wie es kommt.
Das ist mir zu fatalistisch.
Aber du siehst doch, dass man dement und zufrieden sein kann. Was schreckt dich denn nur so?
Mich schreckt die Vorstellung, meinen Körper einer Person zu überlassen, die irgendwann meine Söhne nicht kennt, sich nicht an dich erinnert, die nie gesegelt ist, vielleicht nicht mal das Meer liebt, eine Person, mit der ich mich partout nicht identifizieren kann, verdammt noch mal! Die mit meinem Namen in der Welt agiert oder vegetiert, obwohl sie kaum Ahnung davon hat, wen sie da verkörpert. Eine Fake-Person!
Ach, komm. Du übertreibst mal wieder maßlos. In Wirklichkeit hast du doch nur Angst, von anderen abhängig zu werden.
Touché! Zugegeben: Ich will nicht angewiesen sein auf überforderte Pfleger*innen in einem System, dass jetzt schon halb kollabiert ist. Und noch viel weniger möchte ich, dass sich meine Söhne mit einer dementen Mutter herumplagen müssen. Ich will ihr Leben nicht mit dieser Last beschweren. Dafür habe ich es ihnen nicht geschenkt!
Du kannst es nur nicht mit deinem Selbstbild vereinbaren, dass du dann nicht mehr die Fürsorgende bist, sondern jetzt mal für dich gesorgt wird. Du kannst dich nicht als Hilfsbedürftige annehmen. Wird Zeit, dass du es lernst!
Das gehört dann wohl zu diesen spannenden Lektionen des Alterns, zum Bilden einer reifen Persönlichkeit mit Weisheitseinsprengseln! Ich weiß nicht, ob ich Lust habe, die zu lernen, bevor meine ach so gereifte Persönlichkeit dann wieder regrediert, zerfällt, n’existe plus. Dann nehme ich doch lieber den Notausgang.
Ich glaube nicht, dass du das tust.
Ich weiß es nicht. Aber ich möchte es tun können.
Von der Weltlage bekommst du zum Glück nichts mehr mit, auch wenn das Radio bei uns oft läuft. Für dich sind das nur noch Hintergrundgeräusche. Was dich heute verstört hat, war die Todesanzeige deines Vaters, die du bei deinen Aufräumarbeiten gefunden hast:
„Was müssen wir denn jetzt machen? Hier steht die Trauerfeier ist am 24. April?“
„Ja, aber das war 1997. Nicht in diesem Jahr. Johnny ist ja schon vor 26 Jahren gestorben.“
„Das kann nicht sein. Ich war ja gestern noch bei ihm.“
Ich habe dir das Datum auf der Todesanzeige gezeigt, aber ich habe dann nicht weiter darauf beharrt. Die Zeit, in der ich hoffte, dir die Realität beweisen zu können, ist vorbei. Da du den ganzen Vormittag unruhig die Anzeige studiertest, immer wieder im Kalender geblättert hast, immer wieder wissen wolltest, was wir denn jetzt machen müssten, habe ich sie nach dem Mittagessen in meinen Ordner mit Dokumenten geheftet. Aus deinen Augen, aus deinem Sinn. Am Abend wolltest du wieder zu Johnny fahren. Ich habe dir gesagt, dass dein Vater im Moment gerade nicht in Finkenwerder ist (er ist bei seiner Enkelin in ihrem neuen Haus zu Besuch) und du hast deinen Wunsch getrost auf morgen vertagt. Johnnys Tod ist in deine Welt nicht mehr integrierbar.
Manchmal ist es auch lustig:
Du versteckst deine Schuhe täglich neu an möglichst unzugänglichen und originellen Orten, damit dein Intimfeind Hosse Rottgart (ein Klassenkamerad aus der Grundschule) sie nicht klauen kann: im Bücherregal, unter dem Altpapier, im Werkzeugkasten. Bevor wir unseren täglichen Gang nach draußen machen, begebe ich mich also auf die Suche und werde nach kurzer, meist längerer Zeit fündig. Nun gut, das bringt mich nicht mehr aus der Ruhe. Seit Neuestem versteckst du aber auch meine schwarzen Halbschuhe, die deinen zugebenermaßen ähneln. Diesen Schachzug habe ich aber gekontert, indem ich meinerseits meine Schuhe versteckt habe, damit du sie nicht verstecken kannst. Da es lange nicht geregnet hat, habe ich diese Schuhe lange nicht gebraucht. Gestern aber war es wieder so weit: Ich wollte meine Halbschuhe anziehen – nur, wo waren sie? Sofort habe ich dich verdächtigt, bis ich sie nach langer Suche dort gefunden habe, wo ich sie vor deinem Verstecken versteckt hatte.
Alzheimer-Slapstick!
Heute bin ich der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) beigetreten.
Wir werden Großeltern!
Was liegt alles zwischen den beiden letzten Sätzen! Plötzlich schaue ich wieder ganz anders in die Welt! Die ganze letzte Zeit war geprägt von der Auseinandersetzung mit deiner Erkrankung, mit unserem Alter, vom Sich-Eingewöhnen in das Weniger-Werden, das langsame Absterben, vom Nachdenken über die Vergänglichkeit, ja, vom Nachfühlen. Und nach den Debatten im Bundestag über den assistierten Suizid habe ich noch einmal konkret über meine Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Ende meines Lebens nachgedacht. Meine Konsequenz daraus war der Beitritt in die Gesellschaft für Humanes Sterben, um an die Vermittlung einer Freitodbegleitung zu kommen. Im gegebenen Fall.
Mein Denken war in den letzten Wochen oft ein endzeitliches, mein Fühlen geprägt von Abschied und Melancholie.
Und dann besuchen uns am Wochenende Sören und Doris, die nach einem langen Segeltörn wieder zurück in Hamburg sind. Und sie bringen uns nicht nur Tee aus Amrum und Kekse aus Malmö mit und lebhafte Erzählungen von ihren Erlebnissen an Bord und auf den Inseln und Halligen, nein, Sören lächelt plötzlich verschmitzt und meint:
"Wie’s nächstes Jahr wird mit dem Segeln, müssen wir mal sehen. Dann sind wir nämlich zu dritt."
Während ich noch überlege, ob ich das richtig verstanden habe und ob es mit dem kleinen Bäuchlein in Zusammenhang steht, das mir bei Doris gleich bei ihrer Ankunft zu denken gegeben hat (Ist sie womöglich? Kann es wirklich sein), legt Sören schon das Ultraschallbild auf den Tisch, das alle Zweifel beseitigt.
Meine Freude war riesinnengroß an diesem Tag. Aber nicht nur an diesem Tag. Wie wunderbar ist es, sich wieder mit dem Werden eines Menschen zu beschäftigen, mit dem Wachsen, der Geburt, den vielen Anfängen, dem Neuen. Seitdem kreisen meine Gedanken nicht mehr um Pflege, Demenz-WGs und möglichst erträgliche Wege aus dem Leben, sondern um Kinderwagen, Kita und den möglichst guten Weg ins Leben. Vor zwei Wochen sah ich mir auf arte den sehr guten Schweizer Dokumentarfilm „Letzte Worte – Das Recht auf den selbstbestimmten Tod“ an, der mir tage- und nächtelang zu denken gab, aber gestern fand mich auf 3sat sofort der Film „Hebammen – Auf die Welt kommen“.
Wie gut es mir tut, mich jetzt wieder intensiv mit dem Beginn eines langen Lebenstörns zu beschäftigen! Es gibt mir sogar wieder viel mehr Kraft und Zuversicht, auch die letzte Strecke unseres langen gemeinsamen Törns gut bewältigen zu können. Vielleicht erleidet unsere Flotte am Ende gemeinsam Schiffbruch. Vielleicht nur du und ich muss mich um das Wrack kümmern. Vielleicht steuere ich mein Schiff bewusst in den Untergang. Wir werden sehen. Im Moment schaue ich in die Zukunft, in der ein kleines Bötchen die ersten kleinen Wellen meistern muss.
"Farewell" wurde für den Preis
"Die Freiheit, die ich meine 2024"
nominiert und erreichte die Shortlist.