Nur eine Mahnung
Morgen wirst du siebzig. Jonni wird kommen. Aus dem Süden reist unser Sohn an. Seit zwei Monaten segelt er vor der dalmatinischen Küste; da kannst du dir von ihm neue Träume schenken lassen. Deine Liebe zum Wasser und zum Segeln hast du ihm mitgegeben. Gemeinsam werden wir drei auf deiner Geburtstagsfeier den Törns mit unserem ewig rostenden Jollenkreuzer nachtrauern, den wir nach deinem Schlaganfall vor zwei Jahren verkaufen mussten. Durch zweiundvierzig Sommer sind wir mit ihm gesegelt, zuerst nur wir beide, unbefahren und unerfahren, nur mit unserer Liebe als Kompass, später mit Baby Jonni in der Hundekoje, mit seinem Kleinkindgequengel beim Hafenmanöver.
Und vielleicht reden wir auch über das gern Vergessene:
Wir lagen am Anker vor der Elbinsel Schwarztonnensand und hielten Siesta. Jonni, fünf Jahre alt, spielte in der Vorpiek mit seinen Autos. Brumm, brumm!
Plötzlich wachte ich auf. Etwas stimmte nicht. Es war zu ruhig.
Jonni?
Jonnis Koje war leer.
Jonni!
Mein Schrei schreckte dich auf. Ein Blick auf Jonnis leere Koje und schon sprangst du an Deck.
Hier ist er auch nicht!
Auch ich hastete an Deck, rannte hin und her, suchte im Wasser, in den anbrandenden Wellen, schrie Jonnis Namen, bis ich dich plötzlich vorn am Bug knien sah. Ich rannte zu dir, schaute nach unten und da sah ich unseren Sohn: sah seinen Kopf und seine Arme, sah seine Hände, die sich an die Ankerleine klammerten. Der Rest seines Körpers war unter Wasser, wurde von der reißenden Flut in Richtung Fahrwasser gezerrt. Ich setzte mich auf deine Beine, beschwerte dich mit meinem Körpergewicht, damit du dich weit vorbeugen konntest, um Jonnis Handgelenke zu ergreifen und ihn über die Reling zu ziehen.
Wir zogen ihm die nassen Klamotten aus, zogen ihm trockene an. Beruhigten ihn, beruhigten uns. Um ein Haar! Aber nein. Kein Ende. Nur eine Mahnung an die Zerbrechlichkeit des Glücks.
veröffentlicht in:
Kristin Schröter, Moritz Hildt (Hrsg)
Seewind
ISBN: 978-3-758-31522-0