Unaussprechlich
Stellt euch vor: Wir sind in einem Creative-Writing-Seminar. Und jetzt machen wir eine Zeitreise in die Vergangenheit. Nicht sehr weit, nur zurück bis ins Jahr 2000.
Die Menschheit hat den Jahrtausendwechsel überlebt. Der gefürchtete Millennium-Bug hat nicht alle Computer zum Absturz gebracht. Wir haben wieder eine Zukunft.
Der Seminarleiter Dr. Aiken hat uns die Aufgabe gestellt, eine realistische near future-Fantasy zu entwickeln. Heute sollen vier von uns ihren Text vorstellen. Ich bin zum Glück die letzte. Der erste ist Jan.
„Ach, Klimakatastrophe. Wie originell!“, lautet Dr. Aikens vernichtendes Urteil.
„Total unglaubwürdig, dein Szenario für Deutschland in 20 Jahren“, fallen auch viele von uns über Jan her:
„Verdorrte Felder.“
„Waldbrände.“
„40 Grad hier in Hamburg.“
„Und dann diese Flutkatastrophe! Zweihundert Todesopfer, nur weil es mal stärker regnet? Als gäbe es keine Wettervorhersage, keinen Katastrophenschutz. Die Leute hätte man doch rechtzeitig evakuiert!“
„Genau! Als wenn irgend so ein verpennter Landrat das ganze Sicherheitsnetz aushebeln könnte. Sind wir vielleicht ein Dritte-Welt-Land?“
Jan verteidigt seinen düsteren Plot vergeblich. Er muss sich anhören, sein Text sei aktivistisch und ideologisch und darum trotz einiger sprachlicher Glanzlichter schlicht unliterarisch.
Als Nächste liest Birte ihre Geschichte Der Präsident. Dr. Aiken kommentiert mit gefährlich sanfter Stimme:
„Die Aufgabe war nicht, eine Karikatur zu schreiben. Ich bitte Sie: Ein abgehalfterter Entertainer?“
Wir lachen und ergänzen eifrig:
„Ein notorischer Lügner!“
„Und Sexist! Ich sage nur Grab them by the Pussy! Und den sollen die prüden Evangelikalen wählen?“
„Aber richtig schräg wird es ja, als der seine Anhänger zum Sturm aufs Kapitol hetzt und nicht etwa im Gefängnis landet, sondern zur Wiederwahl antritt.“
„Und auch noch gewählt wird!“
Dr. Aiken lächelt sardonisch:
„Meine liebe Birte, Sie können Ihren Text ja mal in einem Poetry Slam vortragen. Da gehört er hin. So, jetzt bin ich gespannt, ob wir uns endlich mal wieder mit ernsthafter Literatur beschäftigen dürfen.“
Ob Thiens Text den Ansprüchen Dr. Aikens genügen wird? Er trägt den Titel: Die Seuche.
Nach Thiens Lesung schweigen wir beklommen. Seine Schilderungen von Menschen auf Intensivstationen, die verzweifelt um Luft ringen, von Toten, die in Militärlastern abtransportiert werden, haben uns berührt. Selbst Dr. Aiken sagt nichts. Sollte in seiner Brust doch ein fühlendes Herz schlagen?
Es ist Jan, der schließlich den Bann bricht:
„Chapeau! Du verstehst es, Emotionen zu wecken, Thien. Allein dieser alte Mann, der seine an Alzheimer erkrankte Frau nicht im Heim besuchen darf, während die nach ihm ruft, bis ihre Stimme versagt. Das ist gekonnt gemacht. Aber insgesamt dieses Horror-Szenario, tut mir leid, das hat gar nichts Realistisches!“
Jans Worte lösen uns aus unserer Beklommenheit und als ob wir uns für unsere Gefühle schämten, greifen wir Thiens Text jetzt umso heftiger an. Ich eröffne mit:
„Dass die Chinesen am Anfang ihre Ärzte zum Schweigen vergattern, also ich weiß nicht, kann es sein, dass du ein Vorurteil gegen Chinesen hast?
„Wie du die Reaktionen hier bei uns beschreibst, das toppt aber alles! Hier würde doch permanent das Krisenkabinett tagen mit Beratung durch, was weiß ich, Mediziner und so Virologen. Da würde doch nicht jeder Landesfürst andere Maßnahmen ergreifen.“
„Und es gibt garantiert keine Massendemos von Leuten, die sich nicht impfen lassen wollen. Wir sind doch nicht im Mittelalter!“
„Dein Bild von uns Deutschen als Volk von Dumpfbacken finde ich, ehrlich gesagt, bedenklich.“
Der letzte Einwand stammt wieder von Jan. Thiens Stimme zittert, als er entgegnet:
„Ich bin auch Deutscher.“
Jan lächelt mild:
„Ja, natürlich. Geht mir nicht um Staatsbürgerschaft oder so, sondern … na ja, schau einfach in den Spiegel!“
„Rassist!“, ruft Birte, während Thien seine Papiere zusammenrafft und aus dem Raum stürmt.
Dr. Aiken schaut gelangweilt auf die Uhr und wendet sich an mich:
„Das Mittagessen ruft. Ich fürchte, wir werden Ihren Text auf den Nachmittag verschieben müssen. Schlimm?“
„Kein Problem“, sage ich. So habe ich noch ein bisschen Zeit, die Aussprache all dieser ukrainischen Kriegsschauplätze zu üben. Vor allem über den Namen des explodierten Atomkraftwerkes stolpere ich jedes Mal:
Sa po risch sch ja?
gelesen beim Poetry Slam der Hamburger Autorenvereinigung
am 23.6. 2023
Die Menschheit hat den Jahrtausendwechsel überlebt. Der gefürchtete Millennium-Bug hat nicht alle Computer zum Absturz gebracht. Wir haben wieder eine Zukunft.
Der Seminarleiter Dr. Aiken hat uns die Aufgabe gestellt, eine realistische near future-Fantasy zu entwickeln. Heute sollen vier von uns ihren Text vorstellen. Ich bin zum Glück die letzte. Der erste ist Jan.
„Ach, Klimakatastrophe. Wie originell!“, lautet Dr. Aikens vernichtendes Urteil.
„Total unglaubwürdig, dein Szenario für Deutschland in 20 Jahren“, fallen auch viele von uns über Jan her:
„Verdorrte Felder.“
„Waldbrände.“
„40 Grad hier in Hamburg.“
„Und dann diese Flutkatastrophe! Zweihundert Todesopfer, nur weil es mal stärker regnet? Als gäbe es keine Wettervorhersage, keinen Katastrophenschutz. Die Leute hätte man doch rechtzeitig evakuiert!“
„Genau! Als wenn irgend so ein verpennter Landrat das ganze Sicherheitsnetz aushebeln könnte. Sind wir vielleicht ein Dritte-Welt-Land?“
Jan verteidigt seinen düsteren Plot vergeblich. Er muss sich anhören, sein Text sei aktivistisch und ideologisch und darum trotz einiger sprachlicher Glanzlichter schlicht unliterarisch.
Als Nächste liest Birte ihre Geschichte Der Präsident. Dr. Aiken kommentiert mit gefährlich sanfter Stimme:
„Die Aufgabe war nicht, eine Karikatur zu schreiben. Ich bitte Sie: Ein abgehalfterter Entertainer?“
Wir lachen und ergänzen eifrig:
„Ein notorischer Lügner!“
„Und Sexist! Ich sage nur Grab them by the Pussy! Und den sollen die prüden Evangelikalen wählen?“
„Aber richtig schräg wird es ja, als der seine Anhänger zum Sturm aufs Kapitol hetzt und nicht etwa im Gefängnis landet, sondern zur Wiederwahl antritt.“
„Und auch noch gewählt wird!“
Dr. Aiken lächelt sardonisch:
„Meine liebe Birte, Sie können Ihren Text ja mal in einem Poetry Slam vortragen. Da gehört er hin. So, jetzt bin ich gespannt, ob wir uns endlich mal wieder mit ernsthafter Literatur beschäftigen dürfen.“
Ob Thiens Text den Ansprüchen Dr. Aikens genügen wird? Er trägt den Titel: Die Seuche.
Nach Thiens Lesung schweigen wir beklommen. Seine Schilderungen von Menschen auf Intensivstationen, die verzweifelt um Luft ringen, von Toten, die in Militärlastern abtransportiert werden, haben uns berührt. Selbst Dr. Aiken sagt nichts. Sollte in seiner Brust doch ein fühlendes Herz schlagen?
Es ist Jan, der schließlich den Bann bricht:
„Chapeau! Du verstehst es, Emotionen zu wecken, Thien. Allein dieser alte Mann, der seine an Alzheimer erkrankte Frau nicht im Heim besuchen darf, während die nach ihm ruft, bis ihre Stimme versagt. Das ist gekonnt gemacht. Aber insgesamt dieses Horror-Szenario, tut mir leid, das hat gar nichts Realistisches!“
Jans Worte lösen uns aus unserer Beklommenheit und als ob wir uns für unsere Gefühle schämten, greifen wir Thiens Text jetzt umso heftiger an. Ich eröffne mit:
„Dass die Chinesen am Anfang ihre Ärzte zum Schweigen vergattern, also ich weiß nicht, kann es sein, dass du ein Vorurteil gegen Chinesen hast?
„Wie du die Reaktionen hier bei uns beschreibst, das toppt aber alles! Hier würde doch permanent das Krisenkabinett tagen mit Beratung durch, was weiß ich, Mediziner und so Virologen. Da würde doch nicht jeder Landesfürst andere Maßnahmen ergreifen.“
„Und es gibt garantiert keine Massendemos von Leuten, die sich nicht impfen lassen wollen. Wir sind doch nicht im Mittelalter!“
„Dein Bild von uns Deutschen als Volk von Dumpfbacken finde ich, ehrlich gesagt, bedenklich.“
Der letzte Einwand stammt wieder von Jan. Thiens Stimme zittert, als er entgegnet:
„Ich bin auch Deutscher.“
Jan lächelt mild:
„Ja, natürlich. Geht mir nicht um Staatsbürgerschaft oder so, sondern … na ja, schau einfach in den Spiegel!“
„Rassist!“, ruft Birte, während Thien seine Papiere zusammenrafft und aus dem Raum stürmt.
Dr. Aiken schaut gelangweilt auf die Uhr und wendet sich an mich:
„Das Mittagessen ruft. Ich fürchte, wir werden Ihren Text auf den Nachmittag verschieben müssen. Schlimm?“
„Kein Problem“, sage ich. So habe ich noch ein bisschen Zeit, die Aussprache all dieser ukrainischen Kriegsschauplätze zu üben. Vor allem über den Namen des explodierten Atomkraftwerkes stolpere ich jedes Mal:
Sa po risch sch ja?
gelesen beim Poetry Slam der Hamburger Autorenvereinigung
am 23.6. 2023