Der dritte Wilstermarsch
Zum dritten Mal auf dem Weg von Hamburg nach Brokdorf.
Beim ersten Mal schützte die Betonmauer mit Natodrahtkrönung nur ein paar Bauwagen. Diese Betonmauer, die, wie in Hasselbach, Wackersdorf, Gorleben und anderswo mitten in eine ausgesucht schöne Naturlandschaft gebaut, nicht nur harmlose Wanderer erschreckt. Nein, selbst mit Tränengas getaufte Demonstranten erschaudern vor diesem Furunkel auf scheinbar heiler Haut. Und sieht man es ihr nicht trotz ihres makellos weißen Schutzanstriches an, dass sie einmal zerbröckelt und von Grün überwuchert als steinerne Zeugin menschlicher Unvernunft dienen wird?
Die anderen in unserem Auto schelten meine Vision als hoffnungslos optimistisch.
„Da wird kein Grün mehr sein“, sagt Werner und Irene doziert über Kernschmelze und Gammastrahlen, bis sie mit einem “Verdammt, da ist schon wieder Schluss!“ ihren Vortrag abbricht. Auch unser dritter Schleichweg hat uns an ein Stauende geführt.
„Hätten wir uns auch denken können, dass sie die ganze Wilstermarsch weiträumig abriegeln. Wir hätten schon gestern fahren und irgendwo in Wilster pennen sollen. Hast du da nicht Verwandte?“
„Ja, auf dem Friedhof“, antworte ich schnodderig, „wenn du da nächtigen möchtest?“
Nein, das möchte Irene nicht. Und selbst wenn – jetzt würden sie uns nicht durchlassen, um einen Blumenstrauß auf das Grab meiner Großmutter zu legen. Oder die Blumen würden als zur Vermummung dienend beschlagnahmt.
Ach, Oma Röschen, die du zeitlebens klaglos unter deinem verniedlichenden Namen gelitten hast – und unter Hitler, den Bombennächten und der mageren Rente. Hättest du aufbegehrt gegen dieses Monstrum, das sie an den Ort unserer Sonntagsausflüge gesetzt haben? Acht Kilometer von Wilster nach Brokdorf – acht Kilometer von Brokdorf nach Wilster. Die Klagen deiner Enkelin über Blasen an den Füßen konnten dich ebenso wenig von diesem Marsch abhalten wie der ewige Wind der Wilstermarsch. In Brokdorf standest du auf dem Deich und starrtest auf die Elbe, bis ich sagte: „Vielleicht kommt Opa ja doch noch mal wieder!“. Dann löste sich dein Blick von dem ausfahrenden Geisterschiff und leise kam die Antwort: Nein, mien Lütten, die Nordsee gibt keinen wieder her.“
Du bist noch rechtzeitig gestorben. Zu einer Zeit, als es noch Brokdorf bei Wilster hieß und nicht Wilster bei Brokdorf. Und wahrscheinlich hättest du auch nur einen Bogen um diese Betonmauer gemacht und dich wie immer auf den Deich gestellt: „Die Welt ist verrückt. Was kann man schon machen?“
Ich weiß, dass man nichts machen kann und tue es trotzdem. „Lasst uns doch über Kleve fahren. Das ist zwar ein riesiger Umweg, aber da kommen wir vielleicht noch durch“, schlage ich vor und Irene wendet sogleich. Es ist jetzt 14 Uhr. Um 12 Uhr sollte die Kundgebung beginnen. Egal!
Nach einer Stunde Fahrt geraten wir in Kleve wieder an das Ende eines Staus. Wir sehen zerschlagene Windschutzscheiben und einen Verletzten mit blutrotem Kopfverband, der auf dem Rücksitz eines Motorrades abtransportiert wird. Wir hören fassungslos Berichte von einem Überfall der Polizei, wildem Dreinschlagen auf Demonstranten und Autos. Erst aus der Zeitung erfahren wir am nächsten Tag, dass hier der große Konvoi aus Hamburg zum Stoppen gebracht worden ist.
Werner machen die Berichte Angst. Er will zurück nach Hause. Doch wir überreden ihn zu einem letzten Anlauf auf Brokdorf. Und diesmal klappt es! Wir kommen durch bis Wilster und parken vor der Kirche. Auf unserem Fußmarsch nach Brokdorf strömen uns abgekämpfte Demonstranten entgegen. Viele mit roten Augen vom CS-Gas, einige husten.
Schließlich kommt das Atomkraftwerk in Sicht. Wir sehen die Hubschrauber kreisen, die Fontänen der Wasserwerfer, die Gasschwaden, die der Wind über die Deiche trägt: das schon gewohnte Brokdorf-Demo-Szenario. Nach wie vor Tschernobyl. Und bald wird das AKW ans Netz gehen. Das ist so sicher wie das Amen in der Wilster Kirche.
Aber wie sicher ist es danach noch?
veröffentlicht in:
Nach Tschernobyl: Sind es noch die alten Farben?
Hrsg. Harry Böseke und Bernhard Wagner, Beltz & Gelberg, Weinheim 1987