Leseprobe aus "Die Vier Liebeszeiten" Seiten 66 - 71
And so castles made of sandmelts into the sea, eventually tönte es aus Renas Kassettenrekorder. Sie hatte den Song gerade aus dem 5-Uhr-Club des NDR aufgenommen und bis zum Schluss gebangt, ob der Moderator nicht dazwischenquatschen würde. Aber Henning Venske, der immer montags am Mikrofon war, wusste um die Bedürfnisse seiner jugendlichen Zuhörer, von denen viele die Musikstücke mitschnitten, und wartete geduldig, bis die letzten Gitarrenakkorde von Jimi Hendrix verklungen waren. Yeah! Rena ballte triumphierend die Faust. Sie dachte in diesem Moment nicht an den Tod des erbärmlich an seinem Erbrochenen erstickten Gitarrentitanen, sie dachte daran, endlich jederzeit das Lied hören zu können, das bei ihrem Ersten Mal erklungen war, beim ersten Mal, als sie das getrieben hatten, wofür ihr die Worte fehlten. Vielleicht gerade, weil es zu viele Worte dafür gab, sachliche, medizinische, veraltete, flapsige, ordinäre, obszöne Worte, Worte jeder Nuancierung, die dennoch nicht beschreiben konnten, was sie seitdem immer wieder lustvoll trieben. Sie brauchten auch keine Worte. Ein Blick Haukes genügte und Rena wusste, was er wollte; ein Streicheln Renas signalisierte Hauke, dass sie sich mehr von ihm wünschte als Zärtlichkeit. Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen. Diesen berühmten Satz Ludwig Wittgensteins hat Hauke Rena einmal zitiert, und obwohl er sich auf die dem Menschen unfasslichen transzendenten Sphären bezog, fand sie ihn ebenso passend für das, was alle Sex nannten und worüber sie pausenlos redeten, jedenfalls in Haukes WG, die auch ihre WG war, seit sie gleich nach dem Abitur bei den Böckes ausgezogen war. Sie sagte immer bei den Böckes, nie Zuhause, wenn sie von ihrer Mutter und ihrer Stieffamilie sprach, bei der sie nie heimisch geworden war und die wohl auch froh waren, sie wieder los zu sein. Ihr Stiefvater Hartmut Böcke hatte jedenfalls nur pro Forma mit der Polizei gedroht, falls sie es wagen würde, in eine WG zu ziehen, und ihre Mutter hatte achselzuckend gesagt: Mach doch, was du willst! Dann landest du eben in der Gosse! Ich hol dich da jedenfalls nicht wieder raus. Bisher war Rena nicht in der Gosse, sondern an der Universität Hamburg gelandet, wo sie sich für das Fach Physik immatrikuliert hatte. In der Tasche hatte sie ein Sparbuch, von dessen Existenz sie an ihrem achtzehnten Geburtstag von der Hamburger Sparkasse von 1827 unterrichtet worden war. Auf dieses Ausbildungs-Sparbuch hatte Oma Anna regelmäßig kleinere Beträge eingezahlt, so dass es zum Fälligkeitstermin mit Zins und Zinseszins 3587 DM aufwies. Doch dieses Geld brauchte Rena nicht, denn dank ihres hervorragenden Abiturzeugnisses bekam sie ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung, so dass sie nicht einmal jobben musste und sich ganz auf ihr Studium konzentrieren konnte. Das Geld von Oma Anna ließ sie auf der Sparkasse liegen. Es tat ihr gut zu wissen, dass es da war, als Sicherheit, nicht finanziell, da machte sie sich keine Illusionen, wie lange 3587 DM sie vor der Gosse retten könnten, nein, wann immer es ihr schlecht ging, holte sie das Sparbuch aus der Schublade und blätterte darin herum. Jeder eingezahlte Betrag sprach zu ihr von Oma Annas Liebe und Fürsorge. Sie streichelte das Sparbuch, packte es wieder in die Schublade und fühlte sich gestärkt, mit allen Problemen des Lebens fertig zu werden. Das Physikstudium gehörte nicht zu ihren Problemen, im Gegenteil, was sie dort lernte, half ihr, Probleme des Alltags nicht so ernst zu nehmen. Warum sich über einen unpünktlichen Bus aufregen, wenn nach den Erkenntnissen aus der Relativitätstheorie der Bus längst da war, weil es keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gab? Warum einer Horoskop gläubigen Mitbewohnerin ausreden wollen, an ihrem Misserfolg bei einer Prüfung sei die ungünstige Sternenkonstellation schuld und nicht ihre unzureichende Vorbereitung, wenn es in der Quantenwelt Wirkungen ohne Ursache gab und Schrödingers Katze gleichzeitig tot und lebendig war? Und warum sich über Haukes Angewohnheit ärgern, Bücher, Thesenpapiere, Notizzettel und Karteikarten über ihr gemeinsames Zimmer zu verteilen, wenn nach den Gesetzen der Entropie sowieso alles dem Zustand der Unordnung entgegenstrebte? Wenn jedoch müffelnde Socken und benutzte Unterhosen dieses Streben unterstützten, nahm sie Zuflucht zur Erinnerung an ihren Lateinlehrer, der nach katastrophal ausgefallenen Vokalbeltests mit zur Decke des Klassenzimmers gestreckten Händen auszurufen pflegte: Spinoza, hilf mir, diesen Abgrund von Faulheit sub specie aeternitatis zu betrachten! Also sammelte sie die unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit keinen Anlass zu negativen Gemütsbewegungen gebenden Socken und Unterhosen einfach ein und stopfte sie im Badezimmer in die Wäschetruhe. Wenn Hauke sie daran allerdings mit den Worten Die kann ich doch noch mal anziehen! zu hindern suchte, nützte ihr auch der Gesichtspunkt der Ewigkeit nichts mehr. Sie holte tief Luft, doch bevor sie auch nur ein Wort herausbrachte, nahm Hauke ihr schon die inkriminierten Textilien aus der Hand, verschloss ihr mit einem Kuss den Mund und ging ins Badezimmer. Wenn er mit leeren Händen und einem entschuldigenden Lächeln zurückkam, war ihr Ärger verflogen, verflogen, bis zum nächsten Mal, als sie auf ihrem Schreibtisch eine Bananenschale fand, in der eine angebissene, braune, matschige Banane steckte. Mit spitzen Fingern trug sie sie hinüber zu Haukes Schreibtisch und platzierte sie auf der schon ins Reine geschriebenen Seite 43 seiner Examensarbeit über Die Allegorie der Elbe in Wolfgang Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“. Sie legte sie sorgfältig so mit der unbeschädigten Seite der Schale auf das Papier, dass keine Gefahr für Flecken bestand. Die Strafe, die ganze Seite mit seinem Zwei-Finger-Suchsystem noch einmal fehlerlos und ohne Verwendung von Tipp-Ex abtippen zu müssen, kam ihr denn doch zu hart vor. Ihr reichte sein entsetzter Aufschrei, als er beim Nachhausekommen die Banane auf seinem mühsam erarbeiteten Werk entdeckte. Erst als er begriff, dass es unversehrt geblieben war, fand er seinen Humor wieder und fragte sie: Hast auch du den Papierkorb nicht gefunden? Der Humor war es auch, der ihnen noch mehr als der Gesichtspunkt der Ewigkeit half, ihre Unverträglichkeiten erträglich zu gestalten. Für Rena waren Pünktlichkeit, Ordnung, Planung und Zuverlässigkeit Selbstverständlichkeiten, die das Leben angenehm strukturierten und den Alltag erleichterten. Für Hauke waren es Überbleibsel kleinbürgerlicher Tugenden, also Untugenden, und mit dieser Wertung war er deutlich schonender als die anderen WG-Mitglieder, die sie als präfaschistisch verurteilten. Bald traute Rena sich kaum noch, sich über nicht eingehaltene Putzpläne zu beschweren; sie sagte nichts, wenn sie abgehetzt von der Uni zur wöchentlichen WG-Sitzung kam, nur um dann eine Stunde lang zu warten, bis auch Jakob, der immer der Letzte war, eintraf; sie schluckte ihren Ärger herunter, wenn Regina bei ihrem Einkaufsdienst lieber spontan zehn Gläser Gomasio kaufte, weil sie gerade die makrobiotische Küche entdeckt hatte, dafür aber keine Rolle Klopapier. Hauke amüsierte sich nur über das, was er liebenswerte menschliche Schwächen nannte und zitierte gerne Karlsson vom Dach, den Lieblingshelden seiner Kindheit, mit den Worten Das stört doch keinen großen Geist. Sofort schämte Rena sich, fand sich kleingeistig, engherzig und pedantisch und nahm sich vor, die menschlichen Schwächen in Zukunft auch liebenswert zu finden. Wenn ihr Mitbewohner Jakob Recht hatte, waren es ja auch gar keine Schwächen, sondern es waren die Vorboten der Befreiung von Repression und Verklemmung, es war die Abschüttelung des autoritären Charakters, die Morgenröte des neuen Menschen. Die Herausbildung dieses neuen Menschen hatte sich nach der Enttäuschung über das Ausbleiben der großen politischen Revolution zum Hauptanliegen der WG entwickelt. Sie diskutierten nicht mehr über den wahren Weg zur klassenlosen Gesellschaft, sie wollten erst mal das Individuum befreien, dann würden sich später die befreiten Individuen von ganz alleine zur klassenlosen Gesellschaft zusammenfinden. Und der erste Schritt auf diesem Weg war das Aufbrechen ihrer sexuellen Verklemmungen, predigte der Psychologiestudent Jakob immer wieder. Seine Worte fanden viel Anklang bei den anderen WG-Mitgliedern, auch bei Hauke, wie Rena mit Erschrecken feststellte. Sie hasste das permanente Gerede über Sex, wollte nicht über Masturbationserfahrungen, perverse Gelüste und anale Stimulation sprechen und auch nichts von den anderen darüber hören. Aber auch das traute sie sich nicht zu sagen aus Angst, als spießig, verklemmt und wieder mal präfaschistisch entlarvt zu werden. So war sie dabei, als in der bröckelnden Jugendstilvilla eines Abends im Gemeinschaftszimmer die Rollos runtergingen, Matratzen auf dem Boden verteilt wurden, die sechs WG-Mitglieder die Sangria-Flasche kreisen ließen und auf Jakobs Anweisungen warteten, der ihnen klargemacht hatte, dass sich sexuelle Verklemmungen nicht allein durch Reden lösen ließen. Es galt, zur Tat zu schreiten! Oder vielmehr sich zu legen, witzelte Hauke, was alle außer Jakob mit nervösem Gelächter quittierten. Der erklärte mit ernster Miene: Die erste Übung ist ganz einfach. Wir ziehen uns aus und dann legt sich immer einer beziehungsweise eine in die Mitte, schließt die Augen und lässt sich von den anderen streicheln, zuerst in Bauchlage, dann in Rückenlage. Überall streicheln?, fragte Regina. Natürlich überall! Auch die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, denn darauf zielte deine Frage ja wohl ab. Und keine Angst vor sexuellen Reaktionen! Die dürfen nicht nur, die sollen sogar sein! Aber immer schön die Augen geschlossen halten! Es kommt auf die Loslösung sinnlicher Gefühle von bestimmten Personen an. Regina erklärte sich bereit, den Anfang zu machen, bat sich nur aus: Aber nicht kitzeln! Alle zogen sich aus, standen nackt da, bis auf Rena. Sie hatte nur ihr T-Shirt ausgezogen, den Reißverschluss an ihren Rock aufgemacht, aber gerade, als Hauke zu ihr hinsah, schloss sie ihn energisch wieder, streifte sich das T-Shirt über und verkündete: Ich mach nicht mit! Alle starrten sie sprachlos an. Jakob fand als erster wieder Worte: Rena, sei nicht albern! Gerade wenn es dich vielleicht Überwindung kostet, ist es umso wichtiger, diese Hemmung abzubauen… Ich will sie aber gar nicht abbauen! Das ist doch nichts als kleinbürgerliche Feigheit! Renas Augen füllten sich mit Tränen, als sie mit einem verzweifelten Blick zu Hauke sagte: Meine sinnlichen Gefühle richten sich nun mal nur auf eine ganz bestimmte Person. Weil du manipuliert bist … Jakob redete auf sie ein, legte argumentativ unabweisbar dar, dass gerade sie mitmachen müsste. Rena hörte schweigend zu. Und ging. In ihrem Zimmer angekommen, legte sie sich ins Bett und wartete. Was würde Hauke tun? Bei den anderen bleiben? Träumte nicht auch er den alten Männertraum vom Gruppensex? Würde auch er sie nachher als kleinbürgerlich und feige beschimpfen? Nachher? Warum kam er nicht jetzt? Hielt er zu den anderen oder zu ihr? Und würde sie es ertragen, wenn er nicht bald käme? Jetzt sofort sollte er kommen! Sie konnte keine Minute länger warten! Sie hielt es einfach nicht aus … Sie musste es nicht länger aushalten. Hauke kam, schmiss seine Klamotten auf den Fußboden und kroch zu ihr unter die Decke. Er wischte mit dem Bettdeckenzipfel ihre Tränen ab, bevor er laut losprustete: Reginas fetten Arsch streicheln als Königsweg zur Revolution! Nee, wenn das so ist, dann bin ich kein Revolutionär mehr!