Heute ist der Tag
15. Mai
Heute habe ich meinen Sterilisationstermin in der Jennifer-Doudna-Klinik. Dort lagern auch schon seit langem meine kryokonservierten Eizellen. Zum Glück haben meine Eltern dafür gesorgt, dass sie mir schon mit vierzehn entnommen wurden. Während ich mich noch mit Pubertätsproblemen abkämpfte, dachten sie schon vorausschauend an ihre Enkelkinder. Das sollen natürlich Markenkids werden, designt im besten Gen-Design-Labor. Meine Mutter schwärmt in den höchsten Tönen von den heutigen Möglichkeiten, „von denen wir damals ja nur träumen konnten.“ Seit der ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung 2012 über die CRISPR/Cas-Methode, mit der man gezielt einzelne Gene austauschen kann, hat die Optimierung des Menschen ja auch wirklich rasante Fortschritte gemacht. Ich weiß ziemlich gut darüber Bescheid, weil ich meine Abi-Arbeit in Bio über die Geschichte des Genome-Enhancement geschrieben habe.
Als damals in China die CRISPR-Zwillinge Lulu und Nana geboren wurden, die ersten genmanipulierten Menschen überhaupt, war der Schock noch groß und ihr Erzeuger He Jiankui wurde dafür sogar zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Aber ein weltweites Moratorium gegen die Anwendung dieser Methode in der Keimbahn des Menschen kam natürlich nicht zustande und nachdem die Kinderkrankheiten der CRISPR/Cas-Methode behoben worden waren und sie zuverlässig eingesetzt werden konnte, begann man damit, schwere genetisch bedingte Krankheiten aus dem Erbgut auszumerzen. Wenig überraschend begnügte man sich damit jedoch schon bald nicht mehr. Auch geringfügigere Abweichungen wie unterdurchschnittliches Längenwachstum oder Allergieanfälligkeit wollten viele zukünftige Eltern für ihre Kinder nicht mehr hinnehmen. Mit den Möglichkeiten zur Änderung des Erbguts stiegen zwangsläufig auch die Ansprüche an die Gesundheit und das Aussehen des Nachwuchses. Es begann die Ära des Genome-Enhancement, der geplanten Verbesserung des Erbguts, in der bis heute rasante Fortschritte gemacht werden.
Für meine Abi-Arbeit habe ich eine glatte 1 bekommen, worüber ich mich natürlich mega gefreut habe. Ich hatte es aber auch spannend gefunden, mich damit zu beschäftigen, wie es zu unserer gegenwärtigen Situation gekommen ist. Heute kann man ja das Erbgut seiner Kinder deutlich verbessern, ganz nach den eigenen Wünschen. Da aber die Wünsche der meisten Menschen sich dank der Medien und der Werbung auffallend gleichen, gleichen sich auch die so entstandenen Menschen immer mehr. Je mehr wir den propagierten Idealtypen gleichen, desto weniger Toleranz gibt es allerdings gegenüber mindernormen Menschen. Alles Abweichende wird als hässlich, ja, widerwärtig empfunden und ich muss gestehen, dass auch mir diese Gefühle nicht fremd sind. Alle, die es sich leisten können, lassen ihre Kinder in Marken-Gen-Design-Labors produzieren: echte Markenkids von Dike, Idadis oder Berok. Ein teurer Spaß, aber meine Eltern werden sich vorzeigbare Enkelkinder etwas kosten lassen, das hat Mama mir versichert. Sie war es auch, die mich gedrängt hat, mich endlich sterilisieren zu lassen. Seit sie mitgekriegt hat, dass da was läuft zwischen Paul und mir, hat sie eine höllische Angst und mahnt mich ständig: Komm mir bloß nicht mit einer wilden Schwangerschaft nachhause!
Nein, das will ich natürlich nicht, obwohl … Nein, verdammt. Es ist gut, dass ich jetzt hier in der Klinik bin. Hoffentlich nicht zu spät!
Nach der Voruntersuchung muss ich ziemlich lange warten. Die Ärztin, zu der ich schließlich ins Sprechzimmer gerufen werde, mustert mich kritisch, blickt auf ihr Display und räuspert sich. Was sie mir dann eröffnet, ist wie ein Schlag in den Magen:
„Sie wissen, dass Sie schwanger sind?“
Ich schüttele stumm den Kopf, noch bevor ihre Nachricht mein Gehirn ganz erreicht. Das kann doch einfach nicht wahr sein! Paul und ich haben nur dieses eine Mal … Nach dieser wild durchtanzten Club-Night und natürlich waren wir beide ziemlich drauf, nicht nur auf Alkohol. Ich erinnere mich kaum - und das soll jetzt solche Folgen haben!
Die Ärztin lächelt unverbindlich.
„Nun, das ist kein Problem. Wir können heute gleich den Abbruch zusammen mit der Sterilisation machen.“
„Ja, natürlich.“
„Dann melde ich Sie jetzt im OP an.“
Während sie in ihr Mediaphone spricht, erwache ich langsam aus meiner Schockstarre:
„Moment, warten Sie bitte! Ich möchte ... ich brauche noch etwas Zeit.“
Die Ärztin unterbricht ihre Spracheingabe und sieht mich verständnislos an:
„Zeit? Wofür?“
„Ich möchte mir das nochmal in Ruhe überlegen ... das, mit dem Abbruch.“
„Was gibt es denn da zu überlegen? Wollen Sie etwa ein No name-Baby zur Welt bringen?“
„Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur ... ich wollte nur ...“
Ich weiß nicht, was ich sagen sollte. Ich will einfach nur Zeit haben, will wenigstens erstmal mit Paul darüber sprechen.
Die Ärztin schaut mich mitleidig an:
„Können Sie sich kein Markenbaby leisten?“
„Doch, sicher. Das ist nicht das Problem. Aber ... bitte geben Sie mir einen Termin in einer Woche, wenn das möglich ist.“
„Das ist natürlich möglich. Aber Sie wissen ja wohl auch, dass es umso komplikationsloser ist, je eher ein Abbruch gemacht wird.“
Ich weiß gar nicht, woher ich den Mut aufbringe, mich zu widersetzen, aber ich habe immer nur den einen Gedanken: Ich muss zuerst mit Paul reden. Daran klammere ich mich wie an einen rettenden Strohhalm.
Schließlich gibt mir die Ärztin einen Termin am 22.5. und ich verlasse die Klinik – unsterilisiert und schwanger.
Wie verabredet, fahre ich gleich zu Paul. Er hat ein Festmahl zubereitet, im Sektkübel kühlt eine Flasche Champagner und ein riesiger Strauß roter Rosen steht auf dem Tisch.
Paul strahlt mich an:
„Zur Feier unserer uneingeschränkten Liebe.“
Ich stürze mich in seine Arme und heule mir die Seele aus dem Leib. Er versteht natürlich überhaupt nicht, was los ist, redet mit sanfter Stimme auf mich ein, versucht, mich zu beruhigen. Als ich wieder sprechen kann, sage ich:
„Erinnerst du dich an unsere Nacht im Club Heaven on Earth?“
„Wie könnte ich die vergessen?“
“Und erinnerst du dich auch an das Danach?“
Paul versteht sofort:
„Du bist schwanger.“
Ich nicke nur.
„Das hätte nicht passieren dürfen.“
„Nein, hätte es nicht. Ist es aber.“
Wir lassen das Essen kalt werden und reden sehr lange. Am Anfang ist Paul so schockiert, wie ich es war, dann aber wird er immer ruhiger und erklärt mir sachlich, wie er die Sache sieht. Er ist so klar und eindeutig in seiner Haltung, dass ich mich jetzt auch viel ruhiger fühle. Er hat natürlich Recht. Ich bin noch viel zu jung, um Mutter zu werden. Nur primitive Frauen bringen heute noch vor dem dreißigsten Jahr Kinder zur Welt. Aber das Wichtigste ist etwas anderes und das hat Paul mir eindringlich vor Augen geführt:
„Wir können es nicht verantworten, ein No name-Kind in die Welt zu setzen. Ganz abgesehen von den immensen gesundheitlichen Risiken für das Kind, wissen wir doch, was es heißt, als No name in dieser Gesellschaft von Markenmenschen zu leben. Wenn du Glück hast, erntest du nur mitleidige Blicke, meistens aber abfällige. Und jeder sieht dir an, dass du aus den verarmten Schichten stammst, dass deine Eltern sich nicht einmal ein einfaches Standard-Upgrade für dich leisten konnten, geschweige denn ein Marken-Gen-Design. Das Kind würde uns später doch ewig Vorwürfe machen. Wir können und dürfen ihm das nicht antun!“
Paul hat er vollkommen Recht. Ich sehe es auch so. Man kann es doch gar nicht anders sehen, oder? Ich werde vernünftig sein und in der nächsten Woche das Problem aus der Welt schaffen.
16. Mai
Seltsam – nachdem Paul und ich uns gestern Abend einig geworden sind, dass es für mich nicht in Frage kommt, dieses Kind auszutragen, fange ich jetzt erst damit an, dieses Wachsen in mir als Kind zu denken. Dabei ist es doch erst ein Embryo und ein Embryo ist nichts weiter als eine Möglichkeit, die man entwickeln oder verwerfen kann. Oder? Ich kann dieses Kind nur so zur Welt bringen, wie es nun mal dank unseres Leichtsinns in mir entstanden ist. Alle Planungs- und Optimierungschancen sind vertan. Der einzige Einfluss, den ich jetzt noch nehmen kann, ist Ja zu sagen oder Nein.
Es gibt nicht einen guten Grund Ja zu sagen.
17. Mai
Es gibt einen einzigen Grund Ja zu sagen: Du bist da. Du bist in mir.
Jetzt spreche ich schon mit dir, als wärst du ein tatsächlicher Mensch. Ich glaube, ich bin verrückt. Ich rede mit einem Ungeborenen.
18. Mai
Ich habe versucht, noch einmal mit Paul zu reden. Er versteht nicht, warum ich überhaupt noch über die Möglichkeit, dich zu bekommen, dich zu behalten, nachdenke. Er meint, die Schwangerschaftshormone würden mich so durcheinanderbringen, dass ich nicht mehr vernünftig denken könne.
„Aber hast du nicht mal gesagt, dass es auch eine Stärke sein kann, wenn man Menschen so akzeptiert, wie sie sind?“, versuche ich sachlich zu argumentieren. „Du warst doch immer kritisch, hast sogar oft von einer ganz anderen Lebensqualität gesprochen, wenn Menschen nicht nur nach Gesundheit, Schönheit oder Markendesign beurteilt würden!“
Jean-Paul schüttelt abwehrend den Kopf.
„Das ist zwar richtig. Theoretisch! Ich denke schon lange, dass uns mit der Normierung und Optimierung der einzelnen Menschen auch etwas verloren gegangen ist: die Fähigkeit zur Toleranz, zum Ertragen von Unterschieden, ja vielleicht sogar dazu, Abweichungen als Bereicherung und nicht als Manko zu empfinden.“
„Eben!“
„Nein nicht: eben! Das Ganze ist eine gesellschaftliche Frage und lässt sich auch nur gesellschaftlich lösen. Unser Kind würde aber in unsere Gesellschaft hineingeboren, wie sie nun mal ist, und müsste darunter leiden. Das können wir doch nicht zulassen! Es wäre rücksichtslos und unverantwortlich von uns. Hör auf, darüber auch nur nachzudenken!“
20. Mai
Paul reagiert zunehmend gereizt, wenn ich ihm mit meinen Bedenken komme. Ich glaube, er könnte es nicht akzeptieren, wenn ich die Schwangerschaft nicht abbrechen ließe. Ich fürchte, ich würde ihn dann sogar verlieren. Nicht sofort – aber wären seine Gefühle für mich auf längere Sicht dieser Belastung gewachsen? Würde das Kind nicht einen Keil zwischen uns treiben? Ich weiß es nicht. Aber ich will ihn nicht verlieren! Soll ich etwa als allein erziehende Mutter mit einem No name-Kind enden? Was für eine Perspektive!
21. Mai
Morgen soll ich dich aus der Welt schaffen, bevor du auf die Welt kommst. Ich kann mich nicht entscheiden. Was ich auch tue, es wird nicht richtig, nicht gut, nicht frei von Schuld sein. Ich komme mir wie die klägliche Heldin einer griechischen Tragödie vor. So etwas sollte es heutzutage doch gar nicht mehr geben!
22. Mai, frühmorgens
Heute ist der Tag. Und ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll.
2024 ausgezeichnet mit dem "Themenpreis Zukunft" der Gruppe 48
als eine der drei besten Geschichten
veröffentlicht in der Anthologie:
Ostertag, Heiger und Mackinger, Herbert (Hrsg.):
Der Zukunft entgegen gehen
Mackinger Verlag 2023, ISBN: 978-3-902964-54-0