I
Sie kennen mich nicht
Sie kennen mich? Sie wissen alles über mich? Von meiner Geburt an? Warum so bescheiden? Ich bin sicher, Sie kennen mich schon seit meiner Zeugung, nein, seit ich noch ein Glanz in den Augen meiner Mutter war. Ich rede schwülstig? Pardon, ich dachte, das trifft Ihr Sprachniveau. Kein Wunder, wenn ich mir so Ihre Lieblingslektüre betrachte, oder? Ich unterschätze Sie und das auch noch gewaltig? Also bitte, ich formuliere es sachlich: Sie kennen mich, seit meine Mutter anfing, darüber nachzudenken, wie sie an eine anonyme Samenspende herankommen könnte. Das werden Sie nicht leugnen. Sie kannten meine Mutter ja schon, als sie noch nicht meine Mutter war, noch nicht mal meine mich planende. Sie kannten sie als die kleine Lara, naseweis und intelligenzbiestig, eine moderne Ausgabe der HanniNanni. Sie haben mit ihr in jener Phase des Heranwachsens, die so schrecklich ist wie ihr Name PU-BER-TÄT, den spießigmiefigpiefigen Eltern Zentimeter um Zentimeter des Minirocks abgerungen. Sie haben mit der Studentin Lara die Bürger runter vom Balkon locken wollen, um dem Vietcong zu helfen. Sie haben nicht Das Kapital mit ihr gelesen, analysiert und diskutiert, sondern sich nur von ihr erzählen lassen, wie anstrengendanregend es ist, Das Kapital zu lesen, zu analysieren, zu diskutieren. Sie haben sich amüsiert, als Lara gegen die sozialistischen Eminenzen aufbegehrte, bevor sie sich von einem ihrer Schwänze entjungfern ließ. Sie haben sich an ihre immer feministischer werdende Sprache gewöhnt, die patriarchalisch verhunzte Worte wie Entjungferung ablehnte, in der Schamlippen zu Venuslippen mutierten, man zu frau wurde und GenossInnen sich genossen. Heute lächeln Sie darüber, wie auch Lara darüber lächelt. Ach ja, die gute alte Zeit. Sie verging im Sauseschritt und Sie schritten mit. Blickten in die unzähligen Beziehungskisten, die Lara ihnen öffnete, ergötzten sich an Laras Sex in allen möglichen Spielarten, Sex mit Männern, Sex mit Frauen, manchmal war es vielleicht auch Liebe oder doch nur ein Ansturm der Endorphine im Gehirn? Lara fabulierte wortreich, metapherngesättigt, auch ironisch und mit Distanz zum Erlebten. Motto: Wie ich die Fallstricke des Lebens meisterte. Doch einer brachte sie ins Straucheln: Der Mitte-Dreißig-Fallstrick. Er tarnte sich unter der Parole Die Fruchtbarkeitsuhr tickt und gab ihr zu denken: Gehörte zu einem erfüllten Frauenleben nicht doch ein Kind? Schwangerschaft, Gebären, Stillen und die einzigartige Mutter-Kind-Symbiose, waren das nicht urweibliche Potenzen, die es auszukosten galt? Diese Überlegungen Laras kennen Sie gut, Sie haben sie gelesen im vierten Buch der Autorin Lena Löpersen. Pardon, der Bestsellerautorin Lena Löpersen, der authentischen weiblichen Stimme in der deutschen Literatur. Lena Löpersens Ich-Erzählerin Lara ließ Sie in ihre Gehirnwindungen gucken und gab in farbigen inneren Monologen ungeschützt ihre geheimsten Gedanken preis. Die Sie, - geben Sie es doch zu! - für die Gedanken der Autorin hielten. Lena Löpersens Gedanken beschäftigten sich jedoch vor allem mit der leicht gesunkenen Auflage ihres dritten Buches. Das Interesse ihrer Leserinnen an Laras Liebesverwicklungen ließ nach. Etwas Neues musste her! Das Abenteuer Kind! Lena würde sich auf dieses Abenteuer einlassen, um hautnah von Laras Erleben erzählen zu können. Denn nichts schenkt der Literatur so viel Lebendigkeit wie das Leben. So wurde ich ein Glanz in den Augen meiner Mutter, der Glanz der guten Hoffnung auf höhere Auflagenzahlen. Und ihre Rechnung ging auf. Der Cliffhanger am Ende des vierten Buches Wird Lara sich für ein Kind entscheiden und wenn ja, von wem? hat Sie zuverlässig zum Kauf des fünften Buches von Lena Löpersen verführt, stimmt’s? Am Anfang waren Sie empört, als Sie lesen mussten, dass die Frage Von wem? keine Antwort finden würde, weil Lara zwar ein Kind wollte, aber keinen Vater dazu. Auch fanden Sie die Passagen des Buches über die Jungfernzeugung in Biologie und Mythos langweilig und überflüssig, denn Lara war ja doch auf ein männliches Dazutun angewiesen. Spannend zu lesen wurde es dann, wie es Lara gelang, einen befreundeten Gynäkologen zu überreden, ihr in seiner Praxis heimlich die Spermien eines anonymen Spenders dazu zu tun. Spätestens da ließen Sie sich wieder vom Sog des gerühmten Löpersen-Sounds in die Story hineinziehen. Sie haben noch genau die Szene im Kopf, wie Lara auf dem berüchtigten Stuhl vor ihrem Gynäkologenfreund lag, mit gespreizten Beinen und klaffender Vulva, wie er die Spermien durch einen Katheter in ihre Gebärmutter spritzte, wie Sie von der grandiosen Vorstellung gepackt wurden, jetzt, genau jetzt passiert Es! Nothing turns into one ließ meine Mutter ihre Lara in diesem schicksalsträchtigen Moment denken. Sie selbst hat eigentlich nur leichten Ärger verspürt, als ich gezeugt wurde, weil sie im ungeheizten Behandlungszimmer fröstelte. Der Lebensspender im weißen Kittel sei unfähig gewesen, die automatische Temperaturdrosselung am Sonntag auszustellen, mokierte sie sich. Ich habe sie nur dieses eine Mal nach meiner Herkunft gefragt. Ich war vierzehn. Ich hatte angefangen, ihre Bücher zu lesen. Ich wollte die Frau kennenlernen, gegen die ich mit der ungezügelten Wut meiner jungen Jahre aufbegehrte. Auch ich war damals so naiv wie Sie und habe geglaubt, durch Lara könnte ich etwas über ihre Schöpferin Lena erfahren. Ich lernte Lara als eine Frau kennen, die trotz all ihrer Macken sympathisch war, und ich kann gut nachvollziehen, wie Sie sich damals mit ihr über den positiven Schwangerschaftstest gefreut haben. Sie lächeln? Sie gestehen, sich ganz mit ihr identifiziert zu haben? Natürlich, Sie haben zusammen mit ihr stolz den prallen Bauch der Welt entgegengestreckt, ihn provozierend in einen Lesben-Buchladen getragen, den angeblich gebärneidigen Männern von der neuen Mütterlichkeit vorgeschwärmt. Sie waren bei den Vorbereitungen für die Hausgeburt dabei, bei den Gesprächen mit der Hebamme, ausgebildet in den USA in Spiritual Midwifery, Sie haben bei Laras Wehen mitgeatmet, das buddhistische OM gesungen, lange, laut, immer wieder OOOOOOM, um das Kind auf die Welt zu locken. Aber es kam nicht, wollte nicht, blieb stecken. Notruf, Krankenwagen, Uniklinik, Kaiserschnitt.
Diana war da.
Fortsetzung im nächsten Band. Lara als Mutter. Lara und ihre kleine Tochter Diana. Freuen Sie sich schon auf dieses aufregende Kapitel in Laras Leben, lesen Sie Szenen von beeindruckender Unmittelbarkeit, gestaltet von Lena Löpersen, der Autorin für die „neue Frau“!
Sie freuten sich auf diesen nächsten Band. Aber Sie mussten länger als gewöhnlich warten. Denn:
Ich war da.
Ich lag in den Armen meiner Mutter und kniff die Augen zu, weil der Arzt eine desinfizierende Lösung hineingeträufelt hatte. Kein Blickaustausch war möglich mit dem Neugeborenen, nein, der neu Geborenen, also auch kein Bonding, dieser Moment, in dem die unzerstörbare Mutterliebe entsteht, wie es die spirituellen Hebammenweisheiten verkündet hatten. Auch auf die Probleme mit dem Milchfluss, der ihren Brüsten nicht entströmen wollte, war sie nicht vorbereitet, schon gar nicht auf die schlaflosen Nächte mit einem schreienden Spuckling auf dem Arm, der ihr die Blusen versaute. Eigentlich hatte sie da schon genug vom Abenteuer Kind, davon bin ich überzeugt. Ein furchtbares Kind sei ich gewesen, hat sie mir bei unseren späteren Fehden vorgeworfen, immer fordernd, nie zufrieden, jede, aber auch wirklich jede Kinderkrankheit hätte ich mir angelacht, meine Trotzanfälle seien zum Davonlaufen gewesen, mein Stottern im Grundschulalter geradezu peinlich für sie als eine Frau der Sprache.
Nein, da war Diana ganz anders. Natürlich schrie auch sie mal und Mama Lara war auch mal übermüdet und ungnädig. Aber das waren nur flüchtige Schatten zu dem Zweck, der Literatur Lena Löpersens die nötige Tiefenschärfe zu verleihen. Lara, die neue Frau, durfte als neue Mutter durchaus auch widersprüchliche Gefühle gegenüber ihrem Kind haben. Da musste nichts mehr verdrängt werden, da konnte Lara ruhig den anderen Müttern in der Baby-Aktiv-Gruppe gestehen, dass sie ihre Tochter am liebsten an die Wand klatschen würde, wenn die mal wieder einen Heidenrabatz angesichts der begehrten Lutscher an der Supermarktkasse veranstaltete. Das haben Sie bestimmt mit Erleichterung gelesen, weil es Ihnen mit Ihrem Sohn/Ihrer Tochter/Ihren Kindern nicht anders erging. Wie mutig von Lara, das auszusprechen! Wie fortschrittlich! Emanzipiert! Ja, eine wirkliche Hilfe für Frauen wie Sie, die das überkommene Mutterbild von der Glucke überwinden wollten, ohne eine Rabenmutter zu werden. Und Lara zeigte, dass es möglich war! Sie wurde eine berühmte Bildhauerin, wurde von aufregenden Männern geliebt und Töchterchen Diana entwickelte sich prächtig, wurde ein Wildfang, so herrlich ungestüm, aber auch so kindlich weise, dass ihr Kindermund viele Seiten bereicherte. Diana wickelte die Au-pair-Mädchen um den kleinen Finger, die auf sie aufpassten, aber ihre große Liebe war und blieb natürlich ihre Mutter, die jede freie Minute mit ihr verbrachte. Diana durfte im Atelier mit Farben rumschmieren, entzückte Lara später mit ihrem Zeichentalent, erfreute sie mit ihren guten Schulnoten und enttäuschte sie auch nicht, als sie sich gegen ein Kunst- und für ein Biologiestudium entschied. Diana ging ihren eigenen Weg, das musste so sein, da sprach Lara Ihnen wieder einmal aus dem Herzen. Diana wurde Schimpansenforscherin wie die berühmte Jane Goodall; ihre Erfahrungen mit den Menschenähnlichen und ihre Affäre mit einem verheirateten Anthropologen bereicherten die weiteren Bücher über Laras Leben, das unweigerlich zu den weniger prickelnden Phasen der Wechseljahre und des Alters voranschritt. Aber Lena Löpersen meisterte natürlich auch diese literarische Herausforderung mit ihrer gewohnten Offenheit und ihrem Humor, so dass Sie sich wieder bestens verstanden fühlten. Sie verfielen weiter dem Sog einer fiktiven Welt, von der Sie zu wissen glaubten, dass sie die reale repräsentiere. Nicht eins zu eins, nein, so naiv waren Sie nie, aber auch wenn die Figuren in den Romanen anders hießen und wenn sich manches sicher nicht genauso abgespielt hat, im Kern ist doch alle Literatur autobiografisch, nicht wahr, und durch das fiktive Leben scheint doch das wirkliche Leben hindurch und in Laras Romantochter Diana steckt doch jede Menge von der realen Tochter der Autorin Lena Löpersen, nicht wahr …
Nicht wahr!
Ich weiß, Sie werden mir nicht glauben. Wie könnte ich es schaffen, Ihre jahrzehntelange Identifikation mit Lara und ihrer Tochter Diana aufzubrechen? Ich beherrsche nicht die Kunst meiner Mutter, eine Figur zu entwickeln, packende Dialoge zu schreiben, Sie mit allen Finessen einer gewieften Romanautorin einzuspinnen in ein Textnetz, aus dem Sie nicht mehr entkommen können. Ich verabscheue Fiktionen. Ich kann Sie nur knapp und sachlich mit meiner Sicht konfrontieren: Meine Mutter war und ist eine eiskalte, liebesunfähige, berechnende Frau, sie wollte mich nicht gelegentlich mal an die Wand klatschen, sondern sie hat mich hinter dicken Wänden von sich ferngehalten. Ich hatte mein eigenes Reich in ihrer großen Villa, voll gestellt mit allem Käuflichen, was ein Kinderherz angeblich begehrt, und bevölkert mit gedungenem Dienstpersonal, sogenannten Kinderfrauen. Wenn meine Mutter sich manchmal in mein Reich verirrte, waren wir uns fremd, wussten nichts miteinander anzufangen. Sie war froh, mich nach einer Schamfrist wieder der Kinderfrau zu überlassen; ich war froh, wenn sie wieder ging. Nur zu Weihnachten, an meinem Geburtstag oder wenn mal wieder eine Fotostrecke von der Autorin mit ihrem entzückendem Kind für eine Homestory geschossen wurde, holte mich meine Mutter für längere Zeit in ihr Reich. Ich hatte kein Zeichentalent und auch nicht das Äquivalent, das Sie dahinter vermutet haben: das Schreibtalent. Ich war keine gute Schülerin, ich war eine sehr gute Schülerin und heute bin ich Verhaltensforscherin und arbeite seit Jahren mit Raben. Ich bin gleich nach dem Abitur aus der Villa meiner Mutter ausgezogen, die nie mein Zuhause war. Ich habe meine Mutter seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.
Seh’n Sie! Sie glauben mir nicht. So kann eine Frau, die in vielen Büchern einfühlsam über die Mutter-Tochter-Beziehung geschrieben hat, nicht mit ihrer eigenen Tochter umgegangen sein, da sind Sie sich sicher. Wie konnte Lena Löpersen über mütterliche Gefühle schreiben, wenn sie sie nie empfunden hat? Das kann ich Ihnen sagen: Sie hat sie empfunden. Ihrer Romantochter Diana gegenüber. Tief und ehrlich. Aber nicht mir gegenüber. Ich war der Irrtum, die Enttäuschung, das Widerspenstige, Unverständliche. Sie mochte mich nicht. Und ich mochte sie nicht. War es so einfach? Ich weiß es nicht.
Warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil ich Sie nie wieder auf einer Party treffen möchte. Sie oder eine der unzähligen Ihresgleichen. Weil ich nie wieder, nachdem der Gastgeber mich als Rabenforscherin Dr. Löpersen vorgestellt hat, die Frage hören möchte:
„Löpersen? Ach, sind Sie die Tochter der berühmten …?“
Und wenn ich mit abwehrender Miene nicke, kommt trotzdem der Satz:
„Wissen Sie, ich habe so viel über Sie gelesen, dass Sie mir wie eine gute Freundin vorkommen, ist das nicht komisch?“
Nein, das finde ich gar nicht komisch, aber wenn ich darauf beharre, dass Sie mich nicht kennen, überhaupt nicht kennen, erscheint ein wissendes Lächeln auf Ihrem Gesicht:
„Keine Angst, ich verwechsle Sie nicht mit der Diana aus den Romanen Ihrer Mutter, aber die Literatur schafft ja aus Fiktionen Wahrheiten, die oft wahrer sind als die Wirklichkeit.“
Auf mein entschiedenes „Nein!“, folgt eine Höflichkeitspause und dann die gutmütige Frage:
„Und, was machen Ihre Schimpansen?“
Aber Sie wollen immer noch nicht Abschied nehmen von dem Bild, das Sie sich im Lauf der Jahrzehnte von meiner Mutter und mir gemacht haben, ich spüre das. Schon gar nicht, nachdem Sie erst gestern Lena Löpersens letzten Roman zu Ende gelesen haben, in dem Lara nach langem und tapferem Kampf ihrem Brustkrebs erliegt. Sie sind noch ganz beeindruckt von der Hingabe, mit der Diana ihre sieche Mutter gepflegt hat, und dann diese ergreifende Abschiedsszene am Sterbebett! Sie schämen sich nicht, dass Ihnen Tränen auf die Buchseite gerollt sind, warum auch, Sie sind ein sensibler Mensch. Und als Sie im Klappentext lasen, dass die Autorin dieses Buch erst drei Wochen vor ihrem Tod vollendet hat, waren Sie erschüttert, als wäre Ihre Schwester gestorben.
Ich versichere Ihnen, Lena Löpersen hat nicht tapfer gegen ihren Krebs gekämpft. Sie war eine ewig jammernde und die Ungerechtigkeit des Schicksals anklagende Patientin. Woher ich das weiß? Nein, ich habe sie nicht gepflegt, das war eine freundliche und geduldige Frau aus Polen. Aber ich habe Briefe von ihr erhalten, lange, bettelnde Briefe, ich möge sie besuchen, wir müssten uns versöhnen, sie könne nicht im Unfrieden mit mir aus dem Leben scheiden.
Ich habe sie besucht, meine geschrumpfte Mutter, habe aufmerksam ihr ausgemergeltes Gesicht betrachtet, ihr in die erwartungsvollen Augen geschaut. Sie hat mir ihre zitternde Hand entgegengestreckt.
„Bitte!“, hat sie gesagt.
„Ich hasse dich“, habe ich geantwortet.
Sie schütteln den Kopf. Ich wusste, Sie würden mir nicht glauben. Sie kennen mich nicht.
Sie kennen mich nicht
Sie kennen mich? Sie wissen alles über mich? Von meiner Geburt an? Warum so bescheiden? Ich bin sicher, Sie kennen mich schon seit meiner Zeugung, nein, seit ich noch ein Glanz in den Augen meiner Mutter war. Ich rede schwülstig? Pardon, ich dachte, das trifft Ihr Sprachniveau. Kein Wunder, wenn ich mir so Ihre Lieblingslektüre betrachte, oder? Ich unterschätze Sie und das auch noch gewaltig? Also bitte, ich formuliere es sachlich: Sie kennen mich, seit meine Mutter anfing, darüber nachzudenken, wie sie an eine anonyme Samenspende herankommen könnte. Das werden Sie nicht leugnen. Sie kannten meine Mutter ja schon, als sie noch nicht meine Mutter war, noch nicht mal meine mich planende. Sie kannten sie als die kleine Lara, naseweis und intelligenzbiestig, eine moderne Ausgabe der HanniNanni. Sie haben mit ihr in jener Phase des Heranwachsens, die so schrecklich ist wie ihr Name PU-BER-TÄT, den spießigmiefigpiefigen Eltern Zentimeter um Zentimeter des Minirocks abgerungen. Sie haben mit der Studentin Lara die Bürger runter vom Balkon locken wollen, um dem Vietcong zu helfen. Sie haben nicht Das Kapital mit ihr gelesen, analysiert und diskutiert, sondern sich nur von ihr erzählen lassen, wie anstrengendanregend es ist, Das Kapital zu lesen, zu analysieren, zu diskutieren. Sie haben sich amüsiert, als Lara gegen die sozialistischen Eminenzen aufbegehrte, bevor sie sich von einem ihrer Schwänze entjungfern ließ. Sie haben sich an ihre immer feministischer werdende Sprache gewöhnt, die patriarchalisch verhunzte Worte wie Entjungferung ablehnte, in der Schamlippen zu Venuslippen mutierten, man zu frau wurde und GenossInnen sich genossen. Heute lächeln Sie darüber, wie auch Lara darüber lächelt. Ach ja, die gute alte Zeit. Sie verging im Sauseschritt und Sie schritten mit. Blickten in die unzähligen Beziehungskisten, die Lara ihnen öffnete, ergötzten sich an Laras Sex in allen möglichen Spielarten, Sex mit Männern, Sex mit Frauen, manchmal war es vielleicht auch Liebe oder doch nur ein Ansturm der Endorphine im Gehirn? Lara fabulierte wortreich, metapherngesättigt, auch ironisch und mit Distanz zum Erlebten. Motto: Wie ich die Fallstricke des Lebens meisterte. Doch einer brachte sie ins Straucheln: Der Mitte-Dreißig-Fallstrick. Er tarnte sich unter der Parole Die Fruchtbarkeitsuhr tickt und gab ihr zu denken: Gehörte zu einem erfüllten Frauenleben nicht doch ein Kind? Schwangerschaft, Gebären, Stillen und die einzigartige Mutter-Kind-Symbiose, waren das nicht urweibliche Potenzen, die es auszukosten galt? Diese Überlegungen Laras kennen Sie gut, Sie haben sie gelesen im vierten Buch der Autorin Lena Löpersen. Pardon, der Bestsellerautorin Lena Löpersen, der authentischen weiblichen Stimme in der deutschen Literatur. Lena Löpersens Ich-Erzählerin Lara ließ Sie in ihre Gehirnwindungen gucken und gab in farbigen inneren Monologen ungeschützt ihre geheimsten Gedanken preis. Die Sie, - geben Sie es doch zu! - für die Gedanken der Autorin hielten. Lena Löpersens Gedanken beschäftigten sich jedoch vor allem mit der leicht gesunkenen Auflage ihres dritten Buches. Das Interesse ihrer Leserinnen an Laras Liebesverwicklungen ließ nach. Etwas Neues musste her! Das Abenteuer Kind! Lena würde sich auf dieses Abenteuer einlassen, um hautnah von Laras Erleben erzählen zu können. Denn nichts schenkt der Literatur so viel Lebendigkeit wie das Leben. So wurde ich ein Glanz in den Augen meiner Mutter, der Glanz der guten Hoffnung auf höhere Auflagenzahlen. Und ihre Rechnung ging auf. Der Cliffhanger am Ende des vierten Buches Wird Lara sich für ein Kind entscheiden und wenn ja, von wem? hat Sie zuverlässig zum Kauf des fünften Buches von Lena Löpersen verführt, stimmt’s? Am Anfang waren Sie empört, als Sie lesen mussten, dass die Frage Von wem? keine Antwort finden würde, weil Lara zwar ein Kind wollte, aber keinen Vater dazu. Auch fanden Sie die Passagen des Buches über die Jungfernzeugung in Biologie und Mythos langweilig und überflüssig, denn Lara war ja doch auf ein männliches Dazutun angewiesen. Spannend zu lesen wurde es dann, wie es Lara gelang, einen befreundeten Gynäkologen zu überreden, ihr in seiner Praxis heimlich die Spermien eines anonymen Spenders dazu zu tun. Spätestens da ließen Sie sich wieder vom Sog des gerühmten Löpersen-Sounds in die Story hineinziehen. Sie haben noch genau die Szene im Kopf, wie Lara auf dem berüchtigten Stuhl vor ihrem Gynäkologenfreund lag, mit gespreizten Beinen und klaffender Vulva, wie er die Spermien durch einen Katheter in ihre Gebärmutter spritzte, wie Sie von der grandiosen Vorstellung gepackt wurden, jetzt, genau jetzt passiert Es! Nothing turns into one ließ meine Mutter ihre Lara in diesem schicksalsträchtigen Moment denken. Sie selbst hat eigentlich nur leichten Ärger verspürt, als ich gezeugt wurde, weil sie im ungeheizten Behandlungszimmer fröstelte. Der Lebensspender im weißen Kittel sei unfähig gewesen, die automatische Temperaturdrosselung am Sonntag auszustellen, mokierte sie sich. Ich habe sie nur dieses eine Mal nach meiner Herkunft gefragt. Ich war vierzehn. Ich hatte angefangen, ihre Bücher zu lesen. Ich wollte die Frau kennenlernen, gegen die ich mit der ungezügelten Wut meiner jungen Jahre aufbegehrte. Auch ich war damals so naiv wie Sie und habe geglaubt, durch Lara könnte ich etwas über ihre Schöpferin Lena erfahren. Ich lernte Lara als eine Frau kennen, die trotz all ihrer Macken sympathisch war, und ich kann gut nachvollziehen, wie Sie sich damals mit ihr über den positiven Schwangerschaftstest gefreut haben. Sie lächeln? Sie gestehen, sich ganz mit ihr identifiziert zu haben? Natürlich, Sie haben zusammen mit ihr stolz den prallen Bauch der Welt entgegengestreckt, ihn provozierend in einen Lesben-Buchladen getragen, den angeblich gebärneidigen Männern von der neuen Mütterlichkeit vorgeschwärmt. Sie waren bei den Vorbereitungen für die Hausgeburt dabei, bei den Gesprächen mit der Hebamme, ausgebildet in den USA in Spiritual Midwifery, Sie haben bei Laras Wehen mitgeatmet, das buddhistische OM gesungen, lange, laut, immer wieder OOOOOOM, um das Kind auf die Welt zu locken. Aber es kam nicht, wollte nicht, blieb stecken. Notruf, Krankenwagen, Uniklinik, Kaiserschnitt.
Diana war da.
Fortsetzung im nächsten Band. Lara als Mutter. Lara und ihre kleine Tochter Diana. Freuen Sie sich schon auf dieses aufregende Kapitel in Laras Leben, lesen Sie Szenen von beeindruckender Unmittelbarkeit, gestaltet von Lena Löpersen, der Autorin für die „neue Frau“!
Sie freuten sich auf diesen nächsten Band. Aber Sie mussten länger als gewöhnlich warten. Denn:
Ich war da.
Ich lag in den Armen meiner Mutter und kniff die Augen zu, weil der Arzt eine desinfizierende Lösung hineingeträufelt hatte. Kein Blickaustausch war möglich mit dem Neugeborenen, nein, der neu Geborenen, also auch kein Bonding, dieser Moment, in dem die unzerstörbare Mutterliebe entsteht, wie es die spirituellen Hebammenweisheiten verkündet hatten. Auch auf die Probleme mit dem Milchfluss, der ihren Brüsten nicht entströmen wollte, war sie nicht vorbereitet, schon gar nicht auf die schlaflosen Nächte mit einem schreienden Spuckling auf dem Arm, der ihr die Blusen versaute. Eigentlich hatte sie da schon genug vom Abenteuer Kind, davon bin ich überzeugt. Ein furchtbares Kind sei ich gewesen, hat sie mir bei unseren späteren Fehden vorgeworfen, immer fordernd, nie zufrieden, jede, aber auch wirklich jede Kinderkrankheit hätte ich mir angelacht, meine Trotzanfälle seien zum Davonlaufen gewesen, mein Stottern im Grundschulalter geradezu peinlich für sie als eine Frau der Sprache.
Nein, da war Diana ganz anders. Natürlich schrie auch sie mal und Mama Lara war auch mal übermüdet und ungnädig. Aber das waren nur flüchtige Schatten zu dem Zweck, der Literatur Lena Löpersens die nötige Tiefenschärfe zu verleihen. Lara, die neue Frau, durfte als neue Mutter durchaus auch widersprüchliche Gefühle gegenüber ihrem Kind haben. Da musste nichts mehr verdrängt werden, da konnte Lara ruhig den anderen Müttern in der Baby-Aktiv-Gruppe gestehen, dass sie ihre Tochter am liebsten an die Wand klatschen würde, wenn die mal wieder einen Heidenrabatz angesichts der begehrten Lutscher an der Supermarktkasse veranstaltete. Das haben Sie bestimmt mit Erleichterung gelesen, weil es Ihnen mit Ihrem Sohn/Ihrer Tochter/Ihren Kindern nicht anders erging. Wie mutig von Lara, das auszusprechen! Wie fortschrittlich! Emanzipiert! Ja, eine wirkliche Hilfe für Frauen wie Sie, die das überkommene Mutterbild von der Glucke überwinden wollten, ohne eine Rabenmutter zu werden. Und Lara zeigte, dass es möglich war! Sie wurde eine berühmte Bildhauerin, wurde von aufregenden Männern geliebt und Töchterchen Diana entwickelte sich prächtig, wurde ein Wildfang, so herrlich ungestüm, aber auch so kindlich weise, dass ihr Kindermund viele Seiten bereicherte. Diana wickelte die Au-pair-Mädchen um den kleinen Finger, die auf sie aufpassten, aber ihre große Liebe war und blieb natürlich ihre Mutter, die jede freie Minute mit ihr verbrachte. Diana durfte im Atelier mit Farben rumschmieren, entzückte Lara später mit ihrem Zeichentalent, erfreute sie mit ihren guten Schulnoten und enttäuschte sie auch nicht, als sie sich gegen ein Kunst- und für ein Biologiestudium entschied. Diana ging ihren eigenen Weg, das musste so sein, da sprach Lara Ihnen wieder einmal aus dem Herzen. Diana wurde Schimpansenforscherin wie die berühmte Jane Goodall; ihre Erfahrungen mit den Menschenähnlichen und ihre Affäre mit einem verheirateten Anthropologen bereicherten die weiteren Bücher über Laras Leben, das unweigerlich zu den weniger prickelnden Phasen der Wechseljahre und des Alters voranschritt. Aber Lena Löpersen meisterte natürlich auch diese literarische Herausforderung mit ihrer gewohnten Offenheit und ihrem Humor, so dass Sie sich wieder bestens verstanden fühlten. Sie verfielen weiter dem Sog einer fiktiven Welt, von der Sie zu wissen glaubten, dass sie die reale repräsentiere. Nicht eins zu eins, nein, so naiv waren Sie nie, aber auch wenn die Figuren in den Romanen anders hießen und wenn sich manches sicher nicht genauso abgespielt hat, im Kern ist doch alle Literatur autobiografisch, nicht wahr, und durch das fiktive Leben scheint doch das wirkliche Leben hindurch und in Laras Romantochter Diana steckt doch jede Menge von der realen Tochter der Autorin Lena Löpersen, nicht wahr …
Nicht wahr!
Ich weiß, Sie werden mir nicht glauben. Wie könnte ich es schaffen, Ihre jahrzehntelange Identifikation mit Lara und ihrer Tochter Diana aufzubrechen? Ich beherrsche nicht die Kunst meiner Mutter, eine Figur zu entwickeln, packende Dialoge zu schreiben, Sie mit allen Finessen einer gewieften Romanautorin einzuspinnen in ein Textnetz, aus dem Sie nicht mehr entkommen können. Ich verabscheue Fiktionen. Ich kann Sie nur knapp und sachlich mit meiner Sicht konfrontieren: Meine Mutter war und ist eine eiskalte, liebesunfähige, berechnende Frau, sie wollte mich nicht gelegentlich mal an die Wand klatschen, sondern sie hat mich hinter dicken Wänden von sich ferngehalten. Ich hatte mein eigenes Reich in ihrer großen Villa, voll gestellt mit allem Käuflichen, was ein Kinderherz angeblich begehrt, und bevölkert mit gedungenem Dienstpersonal, sogenannten Kinderfrauen. Wenn meine Mutter sich manchmal in mein Reich verirrte, waren wir uns fremd, wussten nichts miteinander anzufangen. Sie war froh, mich nach einer Schamfrist wieder der Kinderfrau zu überlassen; ich war froh, wenn sie wieder ging. Nur zu Weihnachten, an meinem Geburtstag oder wenn mal wieder eine Fotostrecke von der Autorin mit ihrem entzückendem Kind für eine Homestory geschossen wurde, holte mich meine Mutter für längere Zeit in ihr Reich. Ich hatte kein Zeichentalent und auch nicht das Äquivalent, das Sie dahinter vermutet haben: das Schreibtalent. Ich war keine gute Schülerin, ich war eine sehr gute Schülerin und heute bin ich Verhaltensforscherin und arbeite seit Jahren mit Raben. Ich bin gleich nach dem Abitur aus der Villa meiner Mutter ausgezogen, die nie mein Zuhause war. Ich habe meine Mutter seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.
Seh’n Sie! Sie glauben mir nicht. So kann eine Frau, die in vielen Büchern einfühlsam über die Mutter-Tochter-Beziehung geschrieben hat, nicht mit ihrer eigenen Tochter umgegangen sein, da sind Sie sich sicher. Wie konnte Lena Löpersen über mütterliche Gefühle schreiben, wenn sie sie nie empfunden hat? Das kann ich Ihnen sagen: Sie hat sie empfunden. Ihrer Romantochter Diana gegenüber. Tief und ehrlich. Aber nicht mir gegenüber. Ich war der Irrtum, die Enttäuschung, das Widerspenstige, Unverständliche. Sie mochte mich nicht. Und ich mochte sie nicht. War es so einfach? Ich weiß es nicht.
Warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil ich Sie nie wieder auf einer Party treffen möchte. Sie oder eine der unzähligen Ihresgleichen. Weil ich nie wieder, nachdem der Gastgeber mich als Rabenforscherin Dr. Löpersen vorgestellt hat, die Frage hören möchte:
„Löpersen? Ach, sind Sie die Tochter der berühmten …?“
Und wenn ich mit abwehrender Miene nicke, kommt trotzdem der Satz:
„Wissen Sie, ich habe so viel über Sie gelesen, dass Sie mir wie eine gute Freundin vorkommen, ist das nicht komisch?“
Nein, das finde ich gar nicht komisch, aber wenn ich darauf beharre, dass Sie mich nicht kennen, überhaupt nicht kennen, erscheint ein wissendes Lächeln auf Ihrem Gesicht:
„Keine Angst, ich verwechsle Sie nicht mit der Diana aus den Romanen Ihrer Mutter, aber die Literatur schafft ja aus Fiktionen Wahrheiten, die oft wahrer sind als die Wirklichkeit.“
Auf mein entschiedenes „Nein!“, folgt eine Höflichkeitspause und dann die gutmütige Frage:
„Und, was machen Ihre Schimpansen?“
Aber Sie wollen immer noch nicht Abschied nehmen von dem Bild, das Sie sich im Lauf der Jahrzehnte von meiner Mutter und mir gemacht haben, ich spüre das. Schon gar nicht, nachdem Sie erst gestern Lena Löpersens letzten Roman zu Ende gelesen haben, in dem Lara nach langem und tapferem Kampf ihrem Brustkrebs erliegt. Sie sind noch ganz beeindruckt von der Hingabe, mit der Diana ihre sieche Mutter gepflegt hat, und dann diese ergreifende Abschiedsszene am Sterbebett! Sie schämen sich nicht, dass Ihnen Tränen auf die Buchseite gerollt sind, warum auch, Sie sind ein sensibler Mensch. Und als Sie im Klappentext lasen, dass die Autorin dieses Buch erst drei Wochen vor ihrem Tod vollendet hat, waren Sie erschüttert, als wäre Ihre Schwester gestorben.
Ich versichere Ihnen, Lena Löpersen hat nicht tapfer gegen ihren Krebs gekämpft. Sie war eine ewig jammernde und die Ungerechtigkeit des Schicksals anklagende Patientin. Woher ich das weiß? Nein, ich habe sie nicht gepflegt, das war eine freundliche und geduldige Frau aus Polen. Aber ich habe Briefe von ihr erhalten, lange, bettelnde Briefe, ich möge sie besuchen, wir müssten uns versöhnen, sie könne nicht im Unfrieden mit mir aus dem Leben scheiden.
Ich habe sie besucht, meine geschrumpfte Mutter, habe aufmerksam ihr ausgemergeltes Gesicht betrachtet, ihr in die erwartungsvollen Augen geschaut. Sie hat mir ihre zitternde Hand entgegengestreckt.
„Bitte!“, hat sie gesagt.
„Ich hasse dich“, habe ich geantwortet.
Sie schütteln den Kopf. Ich wusste, Sie würden mir nicht glauben. Sie kennen mich nicht.