Schwarze Weihnacht
1958 bemerkt der sechsjährige Werner, dass der Weihnachtsmann die Handschuhe seines Vaters trägt. Er schreit: „Du Lügner. Du hast mich betrogen!“ und schleudert wütend den heißersehnten Lego-Kasten gegen den Tannenbaum. Der kippt. Die Gardinen fangen Feuer. Der Vater reißt sich die Maske vom Gesicht, haut dem Sohn links und rechts eine runter. Dann erst greift er zum bereitstehenden Wassereimer und schüttet ihn gegen die Gardinen.
1959 bekommt der Weihnachtsbaum elektrische Kerzen.
1963 verbringt die Familie den Weihnachtsabend vor dem neu erstandenen Fernseher.
1969 weigert sich der inzwischen aus der Kirche ausgetretene Werner „an diesem kapitalistischen Konsumrauschfest“ teilzunehmen. Er schließt sich in sein Zimmer ein und spielt die Internationale.
1971 Das erste Weihnachten in der WG. Zu Werners Erstaunen bestehen zwei Frauen auf einem Weihnachtsbaum. „Wegen der Gemütlichkeit“, sagen sie. „Bürgerliche Gefühsduselei“, antwortet Werner.
1972 besteht Werner darauf, den Tannenbaum im Gemeinschaftszimmer zu schmücken. Als die WG am Heiligen Abend erwartungsvoll eintritt, steht sie einem mit Kartoffelschalen, Präservativen und leeren Bierdosen behängten Baum gegenüber. Vor dem Baum posiert Werner als nackter Weihnachtsmann.
1974 Werner flüchtet vor Weihnachten mit seiner Freundin Karin in ein einsames finnisches Holzhaus.
1975 Karin schenkt Werner einen Fotoapparat zu Weihnachten. Werner nimmt ihn an.
1977 Karin schenkt Werner einen Sohn zu Weihnachten: Malte.
1982 Der 5jährige Malte und die anderen aus dem Kinderladen bestehen auf einem richtigen Weihnachtsfest. Die Kinder schmücken den Baum mit Papierschlangen, selbstgebastelten Sternen, Keksen und kandierten Äpfeln. Auf dem Nachhauseweg sagt Malte zu seinem Vater: „Du warst ein prima Weihnachtsmann, Werner. Nur andere Handschuhe hättest du anziehen sollen.“
veröffentlicht in:
Heilig abend zusammen, Rowohlt, Hamburg 1982
O, du unselige Weihnachtszeit, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2002
Lametta ist out, Herder Verlag, Freiburg 2007
gesendet am
23.12.83 im SFW, 6.12.86 im WDR, 23.12.87 im NDR, 11.12.88 im SDR, 22.12.91 bei Radio Hamburg, 21.12.96 im WDR