Ausgezeichnet mit dem Kurzgeschichtenpreis der
Hamburger Autorenvereinigung 2018:
Birgit Rabisch:
Heimatverbunden
Mona klappt ihren Laptop auf und schaut sich im Café um. Tatsächlich! Wiener Kaffeehaus-Charme mitten in der Schanze. Sie hat es Shirin nicht glauben wollen, aber bisher stimmt alles, was ihre Kommilitonin ihr über das Schanzenviertel erzählt hat, vor dem ihre Mutter sie gewarnt hatte (G 20-Krawalle!) und das ihr Bruder nur als längst gentrifiziertes Szeneviertel verspottete. Du wirst dich hier wohlfühlen, hat Shirin ihr versprochen und bisher hat sie Recht behalten. Na ja, Mona wohnt erst seit drei Wochen in Shirins WG, aber bis zum Ende des Semesters wird sie es bestimmt gut hier aushalten. Die Miete für das WG-Zimmer kann sie sich dank ihres Böckler-Stipendiums locker leisten und in diesem Café hat sie den richtigen Arbeitsplatz gefunden. Ruhig und belebt zugleich. So liebt sie es nicht erst seit ihrer Wiener Zeit.
Mona studiert die Kaffeesorten auf der Schiefertafel über dem Tresen und bestellt einen Arabica. Das Blubbern und Zischen der Espresso-Maschine versetzt sie hier in Hamburg genauso zuverlässig in Arbeitsstimmung wie in den Cafés in London, Nantes, Rio, Kapstadt oder Sydney. Sie fragt den Kellner nach dem Passwort für das WLAN des Cafés. Er weist auf die Kuchenkarte. Ach, da oben steht es ja! Blümchenkaffee0816. Sehr witzig! Sie loggt sich ein und wartet, dass sich ihre Homepage aufbaut, was nervig lange dauert. Home, sweet home!, betet sie ungeduldig, was den Prozess aber auch nicht beschleunigt.
Ist euer WLAN immer so langsam, fragt sie den Kellner, der ihr das Espresso-Tässchen neben den Laptop stellt, doch da ist ihre Startseite endlich da und sie winkt ab. Sie will sich gleich an das Referat für ihr Soziologie Seminar machen, erstellt eine Word-Datei, doch vorher muss sie kurz mal gucken, was so los ist auf der Welt und in ihrer community. Kurz, wirklich nur kurz!
Eine halbe Stunde, zwei Espressos und ein Croissant später chattet sie gerade mit Mamadou in Guinea, als das Smartphone in ihrer Jeanstasche vibriert. Das ist garantiert ihre Mutter. Wer telefoniert sonst noch? Sie schaut auf das Display: London calling, der Eintrag, unter dem sie ihre Mutter gespeichert hat, die ihrem Vater wegen eines Brückenbauprojektes nach London gefolgt ist und auch nach der Scheidung dort blieb, während ihr Vater mit seiner Freundin inzwischen wieder in seinem geliebten Frankreich lebt.
Hallo Mama!
Hab ich dich geweckt?
Mona verdreht die Augen zur stuckverzierten Decke. Das fragt ihre Mutter immer, egal, ob sie morgens, mittags oder abends anruft. Was hat sie bloß für Vorstellungen vom Leben einer Studentin?
Nein, Mama. Ich ... äh, ich prokrastiniere gerade fleißig.
Oh, dann will ich nicht stören. Ich wollte auch bloß mal hören, wie’s dir geht.
Gut. Sag mal, wo ich dich gerade dran hab: Ich muss ein Referat schreiben über Heimat als soziokulturelles Konstrukt. Was verstehst du denn so unter Heimat?
Verschon mich! Ich muss sofort an Blut und Boden denken, an Heimatfront, Heimatschutz, Ariernachweis...
Es folgt ein Vortrag, in dem ihre 68er-Mutter ihr lang und breit darlegt, wie die Nazis das Wort missbraucht haben und die neuen Rechten es schon wieder tun und dass sie sich schlicht als Weltbürgerin bezeichnen würde.
Meine Heimat: Planet Erde, verstehst du?
Mona versteht. Sie hat auch nichts anderes von ihrer Mutter erwartet. Nachdem sie das Gespräch beendet hat, fängt sie an zu grübeln. Was fällt ihr zum Thema des Referats ein? Möglichst was Zitierwürdiges. Gibt‘s da nicht was von Ernst Bloch? Sie googelt. Ja, genau! ...etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat. Sie kopiert es in ihre Datei. Hmmh. Hört sich gewichtig an, aber was will er damit eigentlich sagen? Egal. Erstmal einfach nur Stoff sammeln. Sie horcht in sich hinein und hört plötzlich die Stimme ihres Opas auf Amrum, der beim Abwaschen immer sang: Seemann, deine Heimat ist das Meer, deine Freunde sind die Sterne... Sie lauscht der Melodie nach, hört seine tiefe Stimme, erinnert sich an unbeschwerte Urlaubswochen auf der Insel bei den Eltern ihrer Mutter. Dort hat sie sich ebenso wohlgefühlt wie in der Provence bei den Eltern ihres Vaters. In Frankreich hat sie am längsten gelebt, wenn sie genau nachrechnet, auch wenn sie in Kiel geboren wurde und dort die ersten vier Jahre verbracht hat. An die Zeit kann sie sich kaum erinnern. In Frankreich sind sie dann den Jobs ihrer Mutter in verschiedenen Städten hinterhergezogen, nach ihrem zwölften Lebensjahr den Bauaufträgen ihres Vaters nach Chile, Kanada und schließlich London. Für ihr Studium an der Global Labour University hat sie Semester in Brasilien, Südafrika und Australien verbracht und jetzt ist sie hier in Hamburg und soll was zum Thema Heimat schreiben! Was ist Heimat für sie? Ihr Geburtsland Deutschland? La douce France, wie ihr Vater ganz selbstverständlich antworten würde? Das Meer? Der Planet Erde? Das Land, worin noch niemand war?
Mona öffnet ihren Facebook-Account und postet: Ich brauche eure Hilfe für ein Referat. Stoffsammlung. Was ist Heimat für euch? Eilt!
So, das Ganze nochmal auf Englisch, wobei sie das unübersetzbare Wort Heimat im Original belässt, und sie kann sich zurücklehnen und noch ein Croissant bestellen. Bevor sie es aufgegessen hat, füllt sich die Kommentarfunktion. Auf ihre Freunde ist Verlass! Mona wird ganz warm ums Herz. Das berühmte Heimatgefühl? Vielleicht. Vielleicht ist ihre Heimat einfach jeder Ort, an dem es WLAN gibt.
Hamburger Autorenvereinigung 2018:
Birgit Rabisch:
Heimatverbunden
Mona klappt ihren Laptop auf und schaut sich im Café um. Tatsächlich! Wiener Kaffeehaus-Charme mitten in der Schanze. Sie hat es Shirin nicht glauben wollen, aber bisher stimmt alles, was ihre Kommilitonin ihr über das Schanzenviertel erzählt hat, vor dem ihre Mutter sie gewarnt hatte (G 20-Krawalle!) und das ihr Bruder nur als längst gentrifiziertes Szeneviertel verspottete. Du wirst dich hier wohlfühlen, hat Shirin ihr versprochen und bisher hat sie Recht behalten. Na ja, Mona wohnt erst seit drei Wochen in Shirins WG, aber bis zum Ende des Semesters wird sie es bestimmt gut hier aushalten. Die Miete für das WG-Zimmer kann sie sich dank ihres Böckler-Stipendiums locker leisten und in diesem Café hat sie den richtigen Arbeitsplatz gefunden. Ruhig und belebt zugleich. So liebt sie es nicht erst seit ihrer Wiener Zeit.
Mona studiert die Kaffeesorten auf der Schiefertafel über dem Tresen und bestellt einen Arabica. Das Blubbern und Zischen der Espresso-Maschine versetzt sie hier in Hamburg genauso zuverlässig in Arbeitsstimmung wie in den Cafés in London, Nantes, Rio, Kapstadt oder Sydney. Sie fragt den Kellner nach dem Passwort für das WLAN des Cafés. Er weist auf die Kuchenkarte. Ach, da oben steht es ja! Blümchenkaffee0816. Sehr witzig! Sie loggt sich ein und wartet, dass sich ihre Homepage aufbaut, was nervig lange dauert. Home, sweet home!, betet sie ungeduldig, was den Prozess aber auch nicht beschleunigt.
Ist euer WLAN immer so langsam, fragt sie den Kellner, der ihr das Espresso-Tässchen neben den Laptop stellt, doch da ist ihre Startseite endlich da und sie winkt ab. Sie will sich gleich an das Referat für ihr Soziologie Seminar machen, erstellt eine Word-Datei, doch vorher muss sie kurz mal gucken, was so los ist auf der Welt und in ihrer community. Kurz, wirklich nur kurz!
Eine halbe Stunde, zwei Espressos und ein Croissant später chattet sie gerade mit Mamadou in Guinea, als das Smartphone in ihrer Jeanstasche vibriert. Das ist garantiert ihre Mutter. Wer telefoniert sonst noch? Sie schaut auf das Display: London calling, der Eintrag, unter dem sie ihre Mutter gespeichert hat, die ihrem Vater wegen eines Brückenbauprojektes nach London gefolgt ist und auch nach der Scheidung dort blieb, während ihr Vater mit seiner Freundin inzwischen wieder in seinem geliebten Frankreich lebt.
Hallo Mama!
Hab ich dich geweckt?
Mona verdreht die Augen zur stuckverzierten Decke. Das fragt ihre Mutter immer, egal, ob sie morgens, mittags oder abends anruft. Was hat sie bloß für Vorstellungen vom Leben einer Studentin?
Nein, Mama. Ich ... äh, ich prokrastiniere gerade fleißig.
Oh, dann will ich nicht stören. Ich wollte auch bloß mal hören, wie’s dir geht.
Gut. Sag mal, wo ich dich gerade dran hab: Ich muss ein Referat schreiben über Heimat als soziokulturelles Konstrukt. Was verstehst du denn so unter Heimat?
Verschon mich! Ich muss sofort an Blut und Boden denken, an Heimatfront, Heimatschutz, Ariernachweis...
Es folgt ein Vortrag, in dem ihre 68er-Mutter ihr lang und breit darlegt, wie die Nazis das Wort missbraucht haben und die neuen Rechten es schon wieder tun und dass sie sich schlicht als Weltbürgerin bezeichnen würde.
Meine Heimat: Planet Erde, verstehst du?
Mona versteht. Sie hat auch nichts anderes von ihrer Mutter erwartet. Nachdem sie das Gespräch beendet hat, fängt sie an zu grübeln. Was fällt ihr zum Thema des Referats ein? Möglichst was Zitierwürdiges. Gibt‘s da nicht was von Ernst Bloch? Sie googelt. Ja, genau! ...etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat. Sie kopiert es in ihre Datei. Hmmh. Hört sich gewichtig an, aber was will er damit eigentlich sagen? Egal. Erstmal einfach nur Stoff sammeln. Sie horcht in sich hinein und hört plötzlich die Stimme ihres Opas auf Amrum, der beim Abwaschen immer sang: Seemann, deine Heimat ist das Meer, deine Freunde sind die Sterne... Sie lauscht der Melodie nach, hört seine tiefe Stimme, erinnert sich an unbeschwerte Urlaubswochen auf der Insel bei den Eltern ihrer Mutter. Dort hat sie sich ebenso wohlgefühlt wie in der Provence bei den Eltern ihres Vaters. In Frankreich hat sie am längsten gelebt, wenn sie genau nachrechnet, auch wenn sie in Kiel geboren wurde und dort die ersten vier Jahre verbracht hat. An die Zeit kann sie sich kaum erinnern. In Frankreich sind sie dann den Jobs ihrer Mutter in verschiedenen Städten hinterhergezogen, nach ihrem zwölften Lebensjahr den Bauaufträgen ihres Vaters nach Chile, Kanada und schließlich London. Für ihr Studium an der Global Labour University hat sie Semester in Brasilien, Südafrika und Australien verbracht und jetzt ist sie hier in Hamburg und soll was zum Thema Heimat schreiben! Was ist Heimat für sie? Ihr Geburtsland Deutschland? La douce France, wie ihr Vater ganz selbstverständlich antworten würde? Das Meer? Der Planet Erde? Das Land, worin noch niemand war?
Mona öffnet ihren Facebook-Account und postet: Ich brauche eure Hilfe für ein Referat. Stoffsammlung. Was ist Heimat für euch? Eilt!
So, das Ganze nochmal auf Englisch, wobei sie das unübersetzbare Wort Heimat im Original belässt, und sie kann sich zurücklehnen und noch ein Croissant bestellen. Bevor sie es aufgegessen hat, füllt sich die Kommentarfunktion. Auf ihre Freunde ist Verlass! Mona wird ganz warm ums Herz. Das berühmte Heimatgefühl? Vielleicht. Vielleicht ist ihre Heimat einfach jeder Ort, an dem es WLAN gibt.