Monsieur A. lässt nicht grüßen
Seit Jahrzehnten waren wir ein Paar. Ein deutsch-französisches Liebespaar, schon früh ein Elternpaar, spät ein Ehepaar und im Sommer ein Seglerpaar. Immer ein Paar. Es lief die Zeit im Sauseschritt, wir liefen mit und wurden ein altes Liebespaar, ein eingespieltes Ehepaar, ein Elternpaar, das zu seinen Kindern aufschauen muss, ein verspieltes Großelternpaar und ein sturmerprobtes Seglerpaar. Immer ein Paar.
Doch jetzt leben wir in einer Ménage à trois. Unbemerkt hat sich Monsieur A. eingeschlichen, hat sich harmlos hinter deinem Alter versteckt. Dort war er lange Zeit sicher, lauschte hinterlistig dem Chor deiner Freunde: Willkommen im Ü70-Club! Ein bisschen vergesslich in letzter Zeit? Geht uns doch auch so. Alzheimer lässt grüßen!
Monsieur A. lässt nicht grüßen. Er ist immer bei uns. Belauert mich in deinem verwirrten Blick, in deinen verwirrenden Worten. Er ist der unentrinnbare Dritte in unserem Bunde, der ungebetene Charon auf deinem Weg ins Nichts.
Nichts da, sagst du. Wir sind doch noch fit! Vierter Stock ohne Fahrstuhl, das bringt unseren Kreislauf in Schwung. Deinen Monsieur A. hängen wir so locker ab.
Meinen? Ja, nur ich begegne ihm. Du weißt, dass er da ist, strafst ihn aber mit Nichtachtung. Und das ist wahrscheinlich das Beste, was du tun kannst. Ich muss allein sehen, wie ich mit ihm fertig werde. Noch gibt er sich ja zahm, präsentiert sich nur gelegentlich als Desorientierer, der dich auf Irrwege schickt, als Deplatzierer, der dein Arbeitszimmer in ein Chaos verwandelt, als Missweiser, der dir das Tiefkühlfach als Aufbewahrungsort für die Schuhcreme zeigt.
Oft geriert sich Monsieur A. auch als ambitionierter Regisseur, der unsere Dialoge in ein absurdes Theaterstück verwandelt.
Warum hast du denn die Weinflasche in die Waschmaschine getan?
Das hat mir Maman so beigebracht.
Die Flasche ist in tausend Stücke zerbrochen!
War ja auch nicht Made in Germany.
Der gute Sauvignon! Den haben wir doch aus unserem Urlaub in der Provence mitgebracht.
Ich fahre nie in die Provence. Was soll ich mit Lavendel?
Je absurder deine Antworten werden, desto logischer erscheinen sie dir. Befriedigt betrachtest du die Scherben in der Waschmaschine:
Schön sauber!
Dann fällt dir plötzlich ein:
Ich muss dringend an meinem Roman weiterschreiben.
Schreib doch mal wieder eine Kurzgeschichte, rege ich an, um nicht mitansehen zu müssen, wie du auf wenigen Seiten einen wirren Plot dem Höhepunkt zutreibst, von wo aus er ungebremst ins Vergessen stürzt. Monsieur A. kichert dazu leise, doch du bist ein glücklicher Sisyphos und tippst viele, viele Sätze in deine Datei neuer Roman.docx.
Manchmal druckst du ein paar Seiten aus, damit ich sie lese und meinen Senf dazu gebe, wie ich immer meinen Senf zu deinen Texten gegeben habe, gerne auch scharfen. Ich lese sie und weiß, es wird keinen Roman mehr geben. Nicht mal mehr eine Kurzgeschichte. Ich moniere nur ein paar Adjektive, doch mein allzu süßer Senf treibt mir die Tränen in die Augen.
Du hast Recht, sagst du. Ich muss die Szene noch mal überarbeiten. Diese Adjektive drücken viel zu sehr auf die Tränendrüse.
Ich hasse Monsieur A. von Herzen, doch er weiß sich in deinem Körper sicher vor meinen Mordgelüsten. Du beherbergst ihn mit Gelassenheit und machst dich sogar über ihn lustig:
Ich habe so viele schöne Erinnerungen, wenn er mir die alle klauen will, hat der arme Mann aber schwer zu schleppen.
Er wird sie dir klauen. Die schönen Erinnerungen. Die schlimmen Erinnerungen. Alle Erinnerungen. Ich unterschätze meinen Gegner nicht. Ich kenne seinen perfiden Plan. Nichts soll bleiben, auch nicht deine Gelassenheit. Monsieur A. wird dir deine Seelenruhe rauben, wird dich gegen mich aufhetzen. Du wirst die Weinflasche nicht mehr in die Waschmaschine stecken, sondern sie nach mir werfen, weil du diese unbekannte alte Frau vertreiben willst, die in deine Wohnung eingedrungen ist.
Du machst dir wie immer zu viele Gedanken über die Zukunft, sagst du. Carpe diem, mon amour!
Und ich antworte wie immer: Was für ein origineller Ratschlag!
Und weiß doch: Es gibt keinen besseren.
Jetzt dringt dein fröhliches Pfeifen in meine Angstgespinste. Frère Jacques soll das wohl sein. Ich gehe in die Küche und sehe dich das Geschirr abwaschen. Du wirkst gelöst und glücklich. Das Rumpütschern im warmen Wasser hat dir schon immer gut gefallen. Ich küsse dich auf den Nacken und verkünde:
Ich backe eine Tarte aux fraises für morgen. Freu dich schon auf Nachschub für deinen Abwasch!
Ist morgen was Besonderes?
Unser vierzigster Hochzeitstag.
Du trocknest dir die Hände ab, gehst zum Kalender, auf dem ich das Datum mit einem Herz umrandet habe, und nickst nachdenklich.
Während ich den Teig anrühre, erinnere ich dich beiläufig daran, dass Beates Blümchenparadies in der Pandemie leider aufgegeben hat.
Ja, wirklich schade, sagst du. Wieder ein kleiner Laden weniger.
Ich sehe Monsieur A. grinsen. Er weiß, dass du morgen früh verständnislos vor dem Paradies stehen wirst, zu dem dir der Eingang verwehrt ist. Aber er freut sich zu früh. Ich bin sicher, dass du mich mit Blumen überraschen wirst; wahrscheinlich Vergissmeinnicht aus dem Park gegenüber. Du wirst mich schelmisch anlächeln und wie jedes Jahr an unserem Hochzeitstag sagen:
Je ne regrette rien, ma chérie.
Und ich werde Monsieur A. einen Tritt verpassen und für einen Moment werden wir wieder ein Paar sein.
"Monsieur A. lässt nicht grüßen"
wurde veröffentlicht auf der Website demenjournal.com
wurde ausgezeichnet mit dem Putlitzerpreis 2022, 6. Platz
wurde veröffentlicht in Nichts, Siegertexte 2022, Hg. 42er Autoren e.V.
wurde veröffentlicht in: Das Wort ergreifen, Mackingerverlag, 2022
Seit Jahrzehnten waren wir ein Paar. Ein deutsch-französisches Liebespaar, schon früh ein Elternpaar, spät ein Ehepaar und im Sommer ein Seglerpaar. Immer ein Paar. Es lief die Zeit im Sauseschritt, wir liefen mit und wurden ein altes Liebespaar, ein eingespieltes Ehepaar, ein Elternpaar, das zu seinen Kindern aufschauen muss, ein verspieltes Großelternpaar und ein sturmerprobtes Seglerpaar. Immer ein Paar.
Doch jetzt leben wir in einer Ménage à trois. Unbemerkt hat sich Monsieur A. eingeschlichen, hat sich harmlos hinter deinem Alter versteckt. Dort war er lange Zeit sicher, lauschte hinterlistig dem Chor deiner Freunde: Willkommen im Ü70-Club! Ein bisschen vergesslich in letzter Zeit? Geht uns doch auch so. Alzheimer lässt grüßen!
Monsieur A. lässt nicht grüßen. Er ist immer bei uns. Belauert mich in deinem verwirrten Blick, in deinen verwirrenden Worten. Er ist der unentrinnbare Dritte in unserem Bunde, der ungebetene Charon auf deinem Weg ins Nichts.
Nichts da, sagst du. Wir sind doch noch fit! Vierter Stock ohne Fahrstuhl, das bringt unseren Kreislauf in Schwung. Deinen Monsieur A. hängen wir so locker ab.
Meinen? Ja, nur ich begegne ihm. Du weißt, dass er da ist, strafst ihn aber mit Nichtachtung. Und das ist wahrscheinlich das Beste, was du tun kannst. Ich muss allein sehen, wie ich mit ihm fertig werde. Noch gibt er sich ja zahm, präsentiert sich nur gelegentlich als Desorientierer, der dich auf Irrwege schickt, als Deplatzierer, der dein Arbeitszimmer in ein Chaos verwandelt, als Missweiser, der dir das Tiefkühlfach als Aufbewahrungsort für die Schuhcreme zeigt.
Oft geriert sich Monsieur A. auch als ambitionierter Regisseur, der unsere Dialoge in ein absurdes Theaterstück verwandelt.
Warum hast du denn die Weinflasche in die Waschmaschine getan?
Das hat mir Maman so beigebracht.
Die Flasche ist in tausend Stücke zerbrochen!
War ja auch nicht Made in Germany.
Der gute Sauvignon! Den haben wir doch aus unserem Urlaub in der Provence mitgebracht.
Ich fahre nie in die Provence. Was soll ich mit Lavendel?
Je absurder deine Antworten werden, desto logischer erscheinen sie dir. Befriedigt betrachtest du die Scherben in der Waschmaschine:
Schön sauber!
Dann fällt dir plötzlich ein:
Ich muss dringend an meinem Roman weiterschreiben.
Schreib doch mal wieder eine Kurzgeschichte, rege ich an, um nicht mitansehen zu müssen, wie du auf wenigen Seiten einen wirren Plot dem Höhepunkt zutreibst, von wo aus er ungebremst ins Vergessen stürzt. Monsieur A. kichert dazu leise, doch du bist ein glücklicher Sisyphos und tippst viele, viele Sätze in deine Datei neuer Roman.docx.
Manchmal druckst du ein paar Seiten aus, damit ich sie lese und meinen Senf dazu gebe, wie ich immer meinen Senf zu deinen Texten gegeben habe, gerne auch scharfen. Ich lese sie und weiß, es wird keinen Roman mehr geben. Nicht mal mehr eine Kurzgeschichte. Ich moniere nur ein paar Adjektive, doch mein allzu süßer Senf treibt mir die Tränen in die Augen.
Du hast Recht, sagst du. Ich muss die Szene noch mal überarbeiten. Diese Adjektive drücken viel zu sehr auf die Tränendrüse.
Ich hasse Monsieur A. von Herzen, doch er weiß sich in deinem Körper sicher vor meinen Mordgelüsten. Du beherbergst ihn mit Gelassenheit und machst dich sogar über ihn lustig:
Ich habe so viele schöne Erinnerungen, wenn er mir die alle klauen will, hat der arme Mann aber schwer zu schleppen.
Er wird sie dir klauen. Die schönen Erinnerungen. Die schlimmen Erinnerungen. Alle Erinnerungen. Ich unterschätze meinen Gegner nicht. Ich kenne seinen perfiden Plan. Nichts soll bleiben, auch nicht deine Gelassenheit. Monsieur A. wird dir deine Seelenruhe rauben, wird dich gegen mich aufhetzen. Du wirst die Weinflasche nicht mehr in die Waschmaschine stecken, sondern sie nach mir werfen, weil du diese unbekannte alte Frau vertreiben willst, die in deine Wohnung eingedrungen ist.
Du machst dir wie immer zu viele Gedanken über die Zukunft, sagst du. Carpe diem, mon amour!
Und ich antworte wie immer: Was für ein origineller Ratschlag!
Und weiß doch: Es gibt keinen besseren.
Jetzt dringt dein fröhliches Pfeifen in meine Angstgespinste. Frère Jacques soll das wohl sein. Ich gehe in die Küche und sehe dich das Geschirr abwaschen. Du wirkst gelöst und glücklich. Das Rumpütschern im warmen Wasser hat dir schon immer gut gefallen. Ich küsse dich auf den Nacken und verkünde:
Ich backe eine Tarte aux fraises für morgen. Freu dich schon auf Nachschub für deinen Abwasch!
Ist morgen was Besonderes?
Unser vierzigster Hochzeitstag.
Du trocknest dir die Hände ab, gehst zum Kalender, auf dem ich das Datum mit einem Herz umrandet habe, und nickst nachdenklich.
Während ich den Teig anrühre, erinnere ich dich beiläufig daran, dass Beates Blümchenparadies in der Pandemie leider aufgegeben hat.
Ja, wirklich schade, sagst du. Wieder ein kleiner Laden weniger.
Ich sehe Monsieur A. grinsen. Er weiß, dass du morgen früh verständnislos vor dem Paradies stehen wirst, zu dem dir der Eingang verwehrt ist. Aber er freut sich zu früh. Ich bin sicher, dass du mich mit Blumen überraschen wirst; wahrscheinlich Vergissmeinnicht aus dem Park gegenüber. Du wirst mich schelmisch anlächeln und wie jedes Jahr an unserem Hochzeitstag sagen:
Je ne regrette rien, ma chérie.
Und ich werde Monsieur A. einen Tritt verpassen und für einen Moment werden wir wieder ein Paar sein.
"Monsieur A. lässt nicht grüßen"
wurde veröffentlicht auf der Website demenjournal.com
wurde ausgezeichnet mit dem Putlitzerpreis 2022, 6. Platz
wurde veröffentlicht in Nichts, Siegertexte 2022, Hg. 42er Autoren e.V.
wurde veröffentlicht in: Das Wort ergreifen, Mackingerverlag, 2022