Nicht lotrecht
Schon wieder ein Monat um! Zeit für den fälligen Besuch bei meinen Eltern. Zeit für die fast zweitstündige Fahrt von der Mitte Hamburgs bis nach Moorleben, von der Metropole in das zersiedelte Schlafdorf, von meiner Gegenwart in meine Vergangenheit.
Während der Fahrt mit der U-Bahn bin ich umgeben von Menschen, die ihre Blicke kaum von ihren Smartphones lösen. Ich schaue in mich hinein. Warum bin ich jedes Mal angespannt, wenn ich zu meinen Eltern fahre? Warum fühle ich mich, kaum habe ich die Schwelle zu ihrem Rotklinkerhaus überschritten, wie ein Kind, das etwas falsch gemacht hat? Die Zeiten, als mein pedantischer Vater an fast allem, was ich machte, herummäkelte, sind doch längst Geschichte, ja, sie sind zu Geschichten geronnen, über die sich meine erwachsenen Töchter amüsieren. Doch in mir lebt sie noch, die magere Achtjährige, die mit einem Lederlappen den Lack des von ihrem Vater heiß geliebten Opel-Kapitäns poliert, nachdem sie das Auto zuvor mehrmals mit einem Spezial-Shampoo gereinigt und mit dem Gartenschlauch abgespült hat. Als sie ihm stolz ihr Werk eines Sonntagnachmittags präsentiert, fährt er mit dem Finger über den Lack, bückt sich und zeigt auf die verchromte Radkappe hinten links:
„Da sind noch blinde Flecken.“
Am Jungfernstieg steige ich in die S-Bahn um, schaue während der Fahrt aus dem Fenster, vor dem die Landschaft allmählich ihren städtischen Charakter verliert. Vor meinem inneren Auge sehe ich meine Töchter bei unserem letzten Klönschnack. Kritisch beäugen sie meine selbst gebackene Schoko-Kirsch-Torte und kichern:
„Da sind aber blinde Flecken drauf, Mama!“
Natürlich lachte ich mit ihnen. Mit den blinden Flecken ziehen sie mich gerne auf. Für sie sind es nur geflügelte Opa-Worte. In mir hallen sie jetzt als Vater-Worte nach und prompt verlieren sie ihre Flügel und reißen mich hinab in die Vergangenheit. Wann habe ich es aufgegeben, meinem Vater gefallen zu wollen? Ich erinnere mich an heftige Pubertätskonflikte und an meine Flucht gleich nach dem Abitur. Raus aus dieser engstirnigen Mein-Haus-mein-Garten-mein-Hund- mein-Auto-Welt! Ich machte mich auf in die große Hafenstadt mit dem Tor zu einer vielgestaltigeren Welt, dem Tor, durch das seit zweiundzwanzig Jahren Menschen aus allen Erdteilen in meine Deutsch-Kurse an der Volkshochschule kommen. Die Fortgeschrittenen muntere ich gern mit einem Zitat Mark Twains auf, die deutsche Sprache solle sanft und ehrfurchtsvoll zu den toten Sprachen abgelegt werden, denn nur die Toten hätten die Zeit, diese Sprache zu lernen.
Ich höre erleichtertes Gelächter und endlich kehren meine Gedanken ganz in die Gegenwart zurück. Am Ende meiner Fahrt erwartet mich kein übermächtiger Pater familias mehr, sondern ein alter Mann im Unruhestand, der zwar sein Berufsleben im Büro einer Versicherung verbracht hat, aber seine Freizeit als leidenschaftlicher und versierter Handwerker. Jetzt kann er nach Herzenslust von morgens bis abends am Haus basteln. Selbst während meiner Besuche verlässt er spätestens nach einer halben Stunde die Kaffeetafel, um irgendetwas zu reparieren, zu modernisieren, aus- und umzubauen, wofür meine Mutter mit dem immer gleichen Spruch um Verständnis wirbt:
„Du weißt ja, wie Papa ist.“
Ja, ich bilde mir ein, das zu wissen. Aber ich dachte auch lange, ich wüsste, wie meine Mutter ist. Doch in den letzten Jahren ist sie aus ihrer Rolle als Hausfrau und Handlangerin ihres Mannes herausgewachsen. Sie hat oft keine Zeit mehr, ihm das Werkzeug zu reichen oder die Leiter festzuhalten, weil sie ihre helfende Hand anderen reicht. Sie spielt im Altersheim mit Dementen Memory, organisiert in der Kirchengemeinde Wohltätigkeitsbasare, und seit im Nachbarhaus eine syrische Flüchtlingsfamilie untergebracht ist, unterstützt sie die Alayas, wie sie nur kann. Als sie mich vor einem halben Jahr nach meinen Unterrichtsmethoden ausfragte, obwohl sie sich bisher nie für meine Arbeit interessiert hatte, war mir klar, dass sie ihnen jetzt auch beim Deutsch lernen half.
Die S-Bahn erreicht ihre Endstation. Ein letztes Mal muss ich umsteigen. Während ich mit dem Bus über die Dörfer zuckele, teste ich die App mit Ausspracheübungen, die ich meiner Mutter empfehlen will. Und dann bin ich endlich angekommen im Dorf meiner Kindheit, in meinem Elternhaus, an der von meiner Mutter gedeckten Kaffeetafel. Alles scheint wie immer zu sein. Meine Mutter hat einen Apfelkuchen gebacken, mein Vater findet ihn zu klitschig, nach einer halben Stunde steht er auf:
„Ich muss nach dem Gartenhaus schauen.“
„Welches Gartenhaus?“, frage ich meine Mutter, als wir allein sind. Sie verdreht die Augen zur Decke:
„Papa hat doch angefangen, hinten ein Häuschen zu bauen. Für seine Werkzeuge und das Gartengerät. Aber dann – zack: Hexenschuss! Viel zu viele Steine auf einmal geschleppt. Vergessen, dass er kein ganz junger Mann mehr ist!“
Wir lächeln uns in stillem Einvernehmen an, bevor sie weiter erzählt:
„Schon am nächsten Tag standen Kamal und Malek auf der Matte. Du weißt doch, die beiden Alaya-Jungs. Und die haben die Mauern wie im Akkord hochgezogen.“
Meine Mutter führt mich ans Wohnzimmerfenster und zeigt in den Garten. Wo früher ihr geliebtes Dahlienbeet war, sehe ich das Gartenhäuschen, dem nur noch das Dach fehlt. Ich sehe aber auch meinen Vater um die noch unverputzten Mauern herumlaufen. Immer wieder legt er mit todunglücklicher Miene seine Wasserwaage an.
„Wahrscheinlich beschwert er sich morgen bei seinen fleißigen Helfern, dass die Mauern nicht hundertprozentig lotrecht sind“, lästere ich.
„Nur über meine Leiche!“, versucht mich meine Mutter zu beruhigen. „Komm, trinken wir noch ein Tässchen.“
Doch gerade, als sie mir einschenken will, zucken wir beide zusammen. Von draußen hören wir wuchtige Hammerschläge und das Poltern von Steinen.
veröffentlicht in: Hamburger Autoren
Hrsg: Hamburger Autorenvereinigung, Hamburg 2021
nominiert für den
Kurzgeschichtenpreis der Hamburger Autorenvereinigung 2020
und in:
BUNT & VIELFÄLTIG wie das Leben
Textfabrique51 (Hg.), S. 104
elbaol verlag hamburg
ISBN: 978-3-384153005